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10.10.1995 "Die Rolle der NVA während der Wende ihre „Zusammenführung“ mit der Bundeswehr" GM a.D. Hans-Werner Deim
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"Die Rolle der NVA während der Wende und die Besonderheiten ihrer „Zusammenführung“ mit der Bundeswehr"

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Hans-Werner Deim, Prinz-Eugen-Kaserne, 10.10.1995


Meine Damen und Herren!

Es ist angenehm, erneut in der Hauptstadt Bayerns, bei ihren Soldaten und für Sicherheitsfragen aufgeschlossenen Bürgern sein zu dürfen. Ihnen allen einen herzlichen Glückwunsch zum bevorstehenden 40. Jahrestag der Bundeswehr!

Der 5. Jahrstag der Herstellung der deutschen Einheit ist im In- und Ausland mit vielen Bilanzen bedacht worden. Grobes Fazit: Im Ergebnis der Vereinigung von Ost und West ist eine neue Republik im Entstehen, aber keine neue Armee. Dafür gibt es Gründe und Erklärungen! Ich rechne mit Ihrem Verständnis für meine Erwägungen mit den Augen des Jahres 1995 zu der uns alle berührende einmalige historische Begebenheit.

Voranstellen möchte ich einiges zur Geschichte der beiden Deutschländer und ihrer Streitkräfte: dann das Phänomen des Verhaltens der NVA in der Wendezeit ein wenig enthüllen; sodann einige Besonderheiten des Einigungsprozesses, besonders auf militärischem Gebiet charakterisieren; abschließend halte ich es für geboten, etwas zu dem NVA-Bild zu sagen, das besonders die Medien und pseudowissenschaftliche Arbeiten verbreiten.

ZU DEN BEIDEN DEUTSCHLÄNDERN UND IHREN STREITKRÄFTEN

Unsere Nation war in der Nachkriegszeit nach dem Willen der Geschichte und des Schicksals, die sie selbst maßlos herausgefordert hatte, geteilt. Sie lebte jahrzehntelang in zwei Staaten, deren Geburt von den Siegern eher verordnet, als vom gereiften Volkswillen erstritten wurde. Beide Staaten wurden von der Teilung der Welt verursacht. Keines der deutschen Teilgebilde sträubte sich nachhaltig gegen die von den Deutschen hervorgerufene und gegeneinander gerichtete Einordnung im sich zuspitzenden Weltbürgerkampf. Die Staaten und Völker, mit denen West- und Ostdeutschland später einen engen Verbund eingingen, sahen deren wachsendes Gewicht in ihren Halberdteilwelten vorteilhaft aufgehoben. Beide Staaten erfüllten korrekt alle Vereinbarungen mit ihren Verbündeten, die sie betreffenden Beschlüsse der UNO und alle internationalen Verträge.

Beide deutschen Staaten schufen sich reguläre Streitkräfte und ordneten sie in die militärische Organisation ihrer militärpolitischen Bündnisse ein. Damit nahmen sie das in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegte Recht der individuellen Selbstverteidigung und kollektiven Verteidigung wahr. Beide deutschen Armeen verfügten über keine eigenständigen strategischen Theorien und Konzeptionen. In diesen Fragen ließen sie sich von den Erwartungen und Vorgaben der beiden Leitmächte und der operativ-strategischen Führungsorgane ihrer Bündnisse leiten.

In ihrem Auftrag und ihren Aufgaben, ihrer Gliederung und Struktur, in der Theorie und Ausbildung wurden beide Armeen auf die Besonderheiten der modernen Etappe des Militärwesens ausgerichtet. Sie bestanden u. a. im Koalitionscharakter des möglichen bewaffneten Kampfes und der lagebedingten operativen Unterstellung der Gefechtspotenziale beider Armeen unter Führungsorgane der Koalitionen. Beide Armeen waren Bestandteile der beiderseits der Frontlinie des Kalten Krieges ständig entfalteten strategischen Gruppierungen der NATO und des Warschauer Vertrages.

Für die Soldaten der DDR gab es Gründe genug, sich auch im Sinne des Völkerrechts für Männer und Frauen der Pflicht und der Ehre zu halten. Ihren Staat anerkannten 136 Staaten, darunter mit dem Grundlagenvertrag schließlich auch der andere deutsche Staat. Die internationale Bestätigung der Staatsqualität der DDR und ihres Status als souveränes Völkerrechtssubjekt konnten die DDR-Soldaten nicht als Irrtum der Mehrzahl der Staaten unseres Planeten ansehen. Bei ihrer Entscheidung werden diese Staaten die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland, dem Vorgängerstaat der beiden modernen Deutschländer, vor ihren wachen Augen gehabt haben. Sie hatten Zeit zu erwägen, ob die DDR ein ähnlicher Irrtum der östlichen deutschen Volksteils war, wie das III. Reich ein folgenschwerer Irrtum des ganzen deutschen Volkes darstellte. Bis zu dessen Proklamation hatten sich in der Geschichte nur Persönlichkeiten, gesellschaftliche Gruppen und Schichten geirrt.

Beide Armeen brachten ihren Bündnissen auf ihre Weise Nutzen. Darin sahen beide Armeen die Möglichkeit und Gelegenheit, sich nach den Bluttaten der Deutschen im 2. Weltkrieg vor der Welt und europäischen Völkern zu bewähren. Im Verbund mit den Armeen unterschiedlicher Staatengruppierungen sind sie dieser neuen historischen Mission gerecht geworden. Die ostdeutschen Soldaten gewannen Glaubwürdigkeit und Vertrauen bei den Völkern Europas, die unter der deutschen Wehrmacht und dem nazistischen Sicherheitsapparat am meisten gelitten hatten. Die Verhinderung des Hinüberwachsens des Kalten Kriegs in den Heißen wird als historische Leistung Aufnahme in die Welt- und europäische Geschichte finden. Die ehemaligen Verbündeten und viele ehemaligen Gegner sprechen der NVA ihren Beitrag für Friedenssicherung an der neuralgischen Frontlinie zwischen den beiden deutschen „Frontstaaten“ nicht ab.

Beide deutschen Armeen haben in der Zeit des Kalten Krieges mit gegeneinander gerichteten Herzen und Waffen eine historische Aufgabe erfüllt. Das ist eine erstaunliche Dialektik der Geschichte.

ZU EINEM HISTORISCHEN PHÄNOMEN

Das Verhalten der NVA in der zugespitzten Existenzkrise der DDR im Herbst 1989 ist ein bemerkenswertes Phänomen. In historisch ähnlichen Situationen bedienten sich Staaten auch der äußersten Mittel, um den Machtverlust zu verhindern.

Folgerichtig konzentrierten sich in der Phase der Annäherung beider deutscher Armeen darauf die ersten und dringlichsten Fragen. Die Antworten sind unterschiedlich geblieben. Die einen meinen, dass der „desolate“ Zustand der NVA keine andere Reaktion zuließ. Andere sehen den Hauptgrund in der Sprach- und Hilflosigkeit der militärpolitischen Führung. Wieder andere glauben, dass der Kalte Krieg ohne bewaffneten Kampf im Zentrum Europas die Möglichkeit militärischer Niederlagen ohne vorherige wütende Feuerduelle einfach einschloss.

Der Hauptgrund für das außergewöhnliche Verhalten der NVA ist indessen in erster Linie geistiger Natur. Als die gesellschaftspolitische Krise sich zuspitzte, sahen viele darin den Ausdruck des umgreifenden Verlusts des sozialen Glaubens an die Machtelite und an das sozialistische Experiment. Globale und regionale Entwicklungsprozesse hatten schon eine längere Zeit Voraussetzungen dafür geschaffen, Sinnfragen als nicht ein- für allemal entschieden anzusehen. Die offenbar werdende Eigensinnigkeit der Geschichte war für manche der ausreichende Verweis darauf, dass Geschichtssinn selbst geschichtlich ist. Das Versiegen des sozialen Glaubens an die DDR beraubte sie mehr und mehr ihrer sozialen Basis und der sozialen Aktivität ihrer Bürger, ohne die kein Staat auf Dauer existenzfähig bleibt. Die seit langem offen zu Tage getretene Involution der politischen Eigenschaften und Möglichkeiten von Waffen und Streitkräften, die als Krise des Militärischen bezeichnet werden kann, mag für die durchweg professionell engagierten Offiziere und Unteroffiziere besonders Verhaltens bildend gewesen sein.

Das Finden eines neuen Verständnisses zu Geschichtssinn, Wertesinn und Sinn des Militärischen war ein jahrelanger Prozess. Vor der Wende erfasste er eine Minderheit, in der Wende die Mehrheit, nach der Wende zerbröselt er; denn in der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit geht es nicht mehr um hehre Sinnfragen.

Die durch den Menschen erlangte Fähigkeit, seiner Existenz und Geschichte selbst ein Ende zu setzen, vertiefte die Grundhaltung der NVA-Angehörigen zum Frieden als dem höchsten Gut. Er ist die Grundvoraussetzung für das Sein der Menschen und das Menschliche. Daher ist Frieden nicht mehr nur der wichtigste aller Zwecke des militärischen Dienens. Frieden ist der alleinige Zweck militärischer Tätigkeit. Die grundsätzliche Friedensfähigkeit des anderen Eigentumssystems wurde nicht mehr bestritten. Was der Außenminister der BRD Genscher vorausgesehen und treffend formuliert hatte, trat ein. Der Gegensatz der beiden Systeme und Seiten im Ost-West-Konflikt entfeindete sich. An die Stelle des „Kults des Militärischen“ traten immer mehr Dialog und Vertrauensbildung, an die Stelle der Konfrontation Kooperation.

Diese Erfahrung am Endpunkt des Kalten Krieges wurde für die NVA Haltung bestimmend im Machtkonflikt in der DDR. Die Großwaffenträger wurden sich ihrer Verantwortung für friedliche Lösungen immer mehr bewusst. Als die Zeit sich wendete, ließ sich die Mehrzahl der NVA-Angehörigen davon leiten, 33 Jahre den 17 Millionen Menschen in der DDR gedient und nicht nur den Namen Volksarmee getragen zu haben. Man muss für sein Volk mit Waffen einstehen. Um das Volk kann man nicht mit der Demonstration oder gar dem Einsatz von Waffen ringen. Wenn das Volk, dessen Teil die Soldaten sind, wirklich einen neuen Willen gefasst hat, erreichen Soldaten nicht sein Umdenken. Einen militärischen Erfolg gegen das eigene Volk erringen zu sollen oder zu wollen, schlossen die Soldaten der DDR als absurd aus. Das hätte ihnen, Männern der Ehre, nur Schande gebracht. Für sie gab es nicht die Traditionslinie der Entgegenstellung des Bruchs mit dem eigenen Volk. Die NVA brachte ohne sonderliche Veranlassung von außen die Kraft zur inneren Umgestaltung der Armee auf. Damit konnte sie zwei für die spätere Vereinigung und die Lösung des inneren deutschen Militärproblems wichtige Voraussetzungen mitgestalten:

  • den friedlichen Verlauf der Wende; denn die Instrumente der Gewalt, deren Nichtanwendung die Demonstranten beschworen, standen in den Gefechtsparks und in den Waffenkammern der Armee;
  • eine demokratische Selbstorientierung, die sie motiviert und geordnet in die Vereinigung Deutschlands einbringen ließ.

Dieses Selbstverständnis ist nicht übersteigerter Geltungsdrang der DDR-Soldaten. Abrüstungs- und Verteidigungsminister Eppelmann bestätigte es ihnen. In seinem für die Frühjahrsentlassungen 1990 herausgegebenen und in allen Truppenstandorten verlesenen Schreiben hieß es:

Ich glaube, es gehört zum Wertvollsten der Wende der DDR, dass sie friedlich vollzogen wurde. Die Armee blieb inmitten des Volkes und an seiner Seite. Selbst in den kritischsten Situationen im vergangenen Herbst hat sie diesen Platz nicht verlassen; sie ist ihrem Namen ‚Volksarmee’ treu geblieben.“

Später würdigte Herr Eppelmann auch das soldatische Lebenswerk der DDR-Soldaten. Anlässlich ihres Ausscheidens aus dem aktiven Wehrdienst mit Wirkung vom 30.09.1990 wurde auch Generalen und Admiralen eine von ihm signierte Urkunde überreicht, die folgenden Wortlaut hat:

„In Würdigung gewissenhafter Pflichterfüllung spreche ich (Dienstgrad, Name) für …jährige Tätigkeit (berechnet vom Zeitpunkt des Eintritts in die KVP/NVA) in den bewaffneten Organen meinen Dank aus.“

Das waren Ehrenerklärungen oder sollten die DDR-Soldaten, Männer der Pflicht, davon ausgehen, dass das der Lockruf in die Falle für sie war. Eine offizielle Ehrenerklärung vor der Schaffung “gemeinsamer“ deutscher Streitkräfte, wie sie Bundeskanzler Adenauer vor der Gründung der Bundeswehr für die Wehrmacht abgegeben hatte, blieb aus. Die deutsche Politik billigte den DDR-Soldaten, die durch ihre Haltung der Demokratie im Osten zum Durchbruch verhalfen, nicht das zu, was sie der Wehrmacht einräumte, die bis zuletzt für den Weiterbestand des von den Völkern Europas verteilten III. Reiches focht. Anderenfalls wären alle Dienstgradgruppen der NVA, die Hoheitsaufgaben nach Recht und Gesetz der DDR erfüllt hatte, für gemeinsame deutsche Streitkräfte tauglich geworden. Manche Politiker, Politologen und Wissenschaftler bauen folgende historische Kontinuitätslinie auf: 1945 wurde nur der westliche Volksteil befreit; die Befreiung für die Ostdeutschen wurde erst 1989/1990 Tatsache. Dann muss doch der Schluss nahe liegen, dass es der Wehrmacht trotz ihres verbissenen Abwehrkampfes im Osten nicht gelang, die Landsleute ostwärts der Elbe vor dem Joch der Russen zu bewahren. Es ist nur zu hoffen, dass nicht dieser historische „Sinn“ hinter der Bezeichnung „Gediente in fremden Streitkräften“ stand.

ZU EINIGEN BESONDERHEITEN DES EINIGUNGSPROZESSES

Die Vereinigung der Deutschen und die Auflösung der NVA sind unerhörte Begebenheiten. Sie konnten nicht vorher geprobt werden. Sie waren gleich Prämieren. Aus meiner Sicht sind vier Besonderheiten dieses Prozesses nicht zu übersehen:

  1. Die Umbruchsituation in der Welt und in Deutschland hatte keine bündigen geistigen Voraussetzungen. Für sie fehlen bis heute theoretische Muster, Modelle und Programme. Die internationale und deutsche Politik orientierte und orientiert sich wegen der offensichtlichen Theoriedefizite auf das nächstens und mehr oder weniger kurzfristig Machbare. Das entsprach und entspricht nicht der Dimension des historischen Vorgangs.
  2. Die Einheit Deutschlands wird nicht von Trägern zukunftsorientierter Visionen, sondern von Spezialexperten mit engem Fachhorizont gestaltet
    Die Problemlösungen in Ostdeutschland sind mit westdeutschem Expertenwissen und von westdeutschen Experten in Angriff genommen worden. Das ist angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Dominanz des deutschen Westens im Einigungsprozess durchaus erklärbar. Primat haben wirtschaftspolitische, technisch-organisatorische und administrative Aufgaben und Lösungen. Das hat neuen Lebenssinn für die einen und für die anderen den Bescheid gebracht, nicht mehr gebraucht zu werden, übrig zu sein. Für viele ist das Traumland BRD nun weniger traumhafte Realität. Ostdeutsche Identität wird in überschaubarer Zeit nicht verschwinden. Die Bundesstaatlichkeit der BRD hat für sie Platz, Gesetz und Ordnung.
  3. Der von der historischen Zäsur der Jahre 1989 – 1991 geprägte globale Evolutionismus ist fehlinterpretiert worden. Besonders in sicherheitsrelevanten Fragen ist vieles anders gekommen, als man annahm:
    1. Die Welt, die sich noch vor fast sechs Jahren, als das Schicksal des anderen deutschen Staates und seiner Streitkräfte zu entscheiden war, in die erste, zweite und dritte Welt teilte, hat eine neue innere Konfiguration angenommen. Sie unterteilt sich nicht in den Norden und den Süden. Der Fall der Berliner und anderen Mauern hat auch nicht zur erwarteten Flut zentripetaler Kräfte geführt, die ihre gegenseitige Abhängigkeit im Rahmen der westlichen technologischen Zivilisation suchen. Die Welt ist nicht zu diesem einheitlichen Zentrum aufgebrochen. Sie bewegt sich verstärkt in die entgegen gesetzte Richtung – zu eigenständigen Zivilisationsfeldern hin. Am Ende des 20. Jahrhunderts kommen sechs zur Geltung:
      1. das westliche
      2. das osteuropäische
      3. das lateinamerikanische
      4. das islamische
      5. das hinduistische
      6. das konfuzianisch-buddhistische
    2. Diese Komplexe bildeten sich in Jahrhunderten vor den sozialen Ideologien heraus und haben sie überdauert. Hinter der Fassade des Kalten Krieges haben sie sich weiter formiert. Das soziale Symptom, das als grundlegende Achse der Weltpolitik galt, erwies sich als starke deckende Wand, hinter der sich die eigentlichen Menschheitsproblem und –Konflikte verbargen und auftürmten.
      Nachdem sich der ideologische Staub gesetzt hat, werden faktisch die beständigen Grundlagen des internationalen Seins und Lebens sichtbar. Das sind die Zivilisationsgrundlinien, das jeweilige zivilisatorische Fundament. Die Staaten gruppieren sich nicht um einen, für einen oder gegen einen anderen Staat. Sie gruppieren sich um die Tatsachen ihrer Geschichte und Geografie, in den Nischen ihrer kulturell-historischen und zivilisatorischen Gemeinsamkeiten. Damit scheint die Herausbildung eines allgemeinen Fundamentalismus verbunden zu sein.
      Er bestimmt das internationale Verhalten, nicht, wie man wähnte, nur der islamischen, sondern im Prinzip aller Staaten; der entwickelten Industriestaaten, der neuen Industriestaaten, der postkommunistischen Staaten, der Entwicklungsländer und der ärmsten Länder der 4. Welt.
      Entgegen der Meinung jener, die geneigt sind, in allen aktuellen Konflikten die Intrigen und Ränke des Nationalismus zu sehen, sind die Nationen innerhalb der Zivilisationsfelder durchaus nicht geneigt, ihre Selbstbestimmung kriegerisch anzustreben oder zu erreichen.
    3. Es ist wahr, dass das nach außen nicht so ist. Die Zivilisationen scheinen die ihnen von den Hauptsubjekten der Weltpolitik zugewiesene Integration in die Weltwirtschaft und -kultur zu vergessen. Sie halten Distanz zueinander aufrecht und bauen zwischen sich fast undurchdringliche Schranken auf.
      Nicht innerhalb der Zivilisationsfelder, sondern an diesen Schranken, an ihren Grenzen, an den Berührungslinien zwischen ihnen entflammen die Hauptkonflikte in unserer neufigurierten Welt. Ich möchte nicht spekulieren! Aber wäre der dynamische Entwicklungsevolutionismus der Weltlage vor einem halben Jahrzehnt schon deutlicher sichtbar gewesen, wäre der Versuch der nahezu vollständigen Ausgrenzung der ostdeutschen Berufsgruppe Soldat sicher unterlassen worden. Es ist eine Ironie der Geschichte und der Militärgeschichte, dass die ehemaligen sowjetischen Waffenbrüder die NVA-Angehörigen als zum westlichen Kulturkreis gehörend einstuften, aber das einige deutsche Vaterland sie mit dem Begriff „Fremde Streitkräfte“ zumindest mental in die Weiten des europäischen Ostens befördert. Das wachsende Schamgefühl der jetzt russischen Heerführer über die Prozesse gegen NVA-Generale scheint zu bestätigen, dass sie dort geistig-ideelle Aufnahme finden. Das gab es nicht einmal in den letzten zweihundert Jahren. Muss das heute sein?
    4. Die neuen Konflikte, die Konflikte der neuen Epoche unterscheiden sich von den in diesem Jahrhundert bisher ausgetragenen durch eine Reihe von Besonderheiten:
      1. Ihre Initiatoren und Opfer können auf eine bedeutende Unterstützungsbasis zurückgreifen. Von beiden Seiten sind an ihnen die jeweiligen Zivilisationszonen beteiligt.
      2. Sie werden mit außerordentlicher Härte und Verbissenheit geführt. In ihnen stehen sich nicht nur die Streitkräfte beider Seiten, sondern zwei Lebensstile, zwei Wertesysteme gegenüber. Der fast hysterische Jähzorn in der Auseinandersetzung gibt der Krisen- und Konfliktregulierung erst nach großen Anstrengungen nach.
      3. Die präzise Bestimmung des Aggressors und des Opfers gelingt nur selten. Der zivilisatorische Kataklysmus in Ex-Jugoslawien z. b. berührt die Randgebiete von drei Zivilisationsfeldern, des osteuropäischen, des westlichen und des islamischen. Nicht der gesunde Menschenverstand und die nüchterne Beurteilung sind entscheidend für Analysen über die Krisenursachen, sondern das zivilisatorische Blickfeld und die Interessenlage. Ohne Details zu berühren kann man sich mit ausreichender Zuverlässigkeit vorstellen, wie sich der Vatikan, Ankara und Moskau in allen bisherigen und möglichen weiteren Stadien des bosnischen Konfliktes positionierten und positionieren werden.
      4. In den neuen Konflikten kann man faktisch nicht siegen. Der Zusammenstoß der Kräfte in der bisherigen Geschichte dieses Jahrhunderts endete, als Maximalvariante, mit der Zerschlagung der Streitkräfte einer Seite. Die Zivilisationsgebundenheit der Teilnehmer der neuen militärischen Konflikte und lokalen Kriege garantiert ihnen fast erdweite Sympathie und Hilfe. Das stimuliert die Entschlossenheit und nahezu fanatische Opferbereitschaft. Jeder der drei Teilnehmer am bosnischen Konflikt vertritt die Wahrheiten seiner Zivilisation und ist fähig, Opfer auf sich zu nehmen, die den Rahmen des Rationalen überschreiten.
        Selbst die Niederlage in einem solchen Konflikt bedeutet nicht sein Ende. Die erniedrigte und gedemütigte Zivilisation wird immer Mittel für die historische Rache finden.
      5. In den neuen Konflikten wird die Schwächung der internationalen Hauptorganisation, der UNO, immer offensichtlicher. Die UNO hat als Träger humanitärer Hilfe, als Forum des zivilisierten Dialogs Perspektive, als Feuerwehr - als Konfliktlöscher kaum! Sie steht vor dem Zwang, ihren Charakter angesichts der veränderten Weltkonfiguration und –lage zu verändern. In das Befehlszentrum der UNO, den Sicherheitsrat, gehören solche Länder wie Indien, Brasilien, Nigeria und Pakistan. Sie würden sehr schnell in der Rolle von Wächtern und Verteidigern der von ihnen vertretenen Zivilisationen in Erscheinung treten. Nicht mehr lange kann man Großbritannien und Frankreich das Vetorecht gegen nichtmilitärische und militärische Sanktionen der UNO zubilligen, aber Japan und das vereinigte Deutschland davon ausschließen.

      Aus diesem gesamten Problemkreis ergibt sich eine Schlussfolgerung. Man wird sich Weltkonflikte aufladen, wenn die Fragen der Beziehungen zwischen den Zivilisationskomplexen und ihrer Sicherheit voreinander nicht nach den übergreifenden Lebens- und Zukunftsinteressen, sondern nach den Vorstellungen einiger Welt- und kontinentaler Großmächte gelöst werden.
      Besonders für Europa, das auch zivilisatorisch seinen Osten und seinen Westen und mit Bosnien ein Element der islamischen Zivilisation in seinem Areal hat, ergibt sich zwingend die Notwendigkeit einer die Zivilisationsgrenzen überschreitenden Sicherheitsgemeinschaft. Hätte es sie schon 1991 gegeben, wäre den Völkern des ehemaligen Jugoslawien die Katastrophe erspart geblieben.

  4. Die am 3. Oktober 1990 staatsrechtlich herbeigeführte Wiedergeburt des geeinten Deutschlands hat die Militärfrage in Deutschland, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Armeen, auf die denkbar revolutionärste weise gelöst. Beide Armeen wurden nicht zusammengeführt, sondern die NVA wurde aufgelöst.
    Dieses Ergebnis ist evolutionär, ohne frühzeitig oder rechtzeitig verlautbarte politische Grundsatzentscheidung in einem eigenartigen Prozess gleitender Teilprojektierung, mangelnder Komplexität und unübersichtlicher Summierung von Einzelmaßnahmen erreicht worden.
    Diesen Prozess charakterisieren aus meiner Sicht folgende Gegebenheiten und Umstände:
    1. Das Ziel der Schaffung gesamtdeutscher Streitkräfte wurde trotz des bis Ende September 1990 aufrechterhaltenen Arbeitstitels „Zusammenführung beider deutscher Armeen“ politisch nicht gewollt und nicht verfolgt.
      Was heute als Armee der Einheit gepriesen wird, ist die nur geringfügig durch ausgewählte NVA-Kader aufgefrischte alte Bundeswehr, die einen gewissen Teil ihrer Kontingente im Osten Deutschlands stationiert hat. Die Bundeswehr ist die Armee der neuen staatlichen Einheit Deutschlands. Sie ist die Armee der Einheit. Am 3.1.1990 bestand die Bundeswehr aus 495 000 Westsoldaten und 93 000 Ostsoldaten, die nur noch etwas mehr als die Hälfte der Friedensstärke der NVA darstellten. Die NVA hatte 15 000 Großwaffensysteme und 300 000 Tonnen Munition u. a. für elf kampfstarke Heeresdivisionen nach ihrem vollen Aufwuchs in die Einheit eingebracht. Sie hatte sie dem Zugriff durch fremde Elemente und für Absichten, die der Einheit widersprachen, entzogen. 24 000 Offiziere, etwa noch die Hälfte des Bestandes an aktiven Offizieren der Wendezeit, unterstellten sich der Kommandogewalt des Bundesverteidigungsministers. 12 000 Offiziere bewarben sich um eine Weiterverwendung. Im April 1994 gab es noch 2811 Ostoffiziere in der Bundeswehr, etwas mehr als fünf Prozent des NVA-Offiziersbestandes. Bei den Unteroffizieren ist es nicht einheitsnäher. Nach meinem Überschlag sind 5712 übernommene Unteroffiziere etwas mehr als zehn Prozent des ehemaligen Bestandes.
    2. Der Vorsatz der Politik zur Entlastung der Bundeswehr von einer maximal möglichen Anzahl von Ostberufsoffizieren und anderen NVA-Relikten wurde vermäntelt.
      Wie ich glaube, geschah das auch gegenüber jenen hohen Offizieren des Bundesverteidigungsministeriums, die beim Aufeinanderzugehen und gemeinsamen Nachdenken die Hauptrolle spielten. Die Beziehungen waren von kollegialem Respekt und soldatischer Ritterlichkeit geprägt. Selbst schon das anfängliche Voneinanderlernen schien ein verheißungsvoller Vorbote für gemeinsame deutsche Streitkräfte zu sein. In den ersten Monaten gemeinsamer Arbeit wurde praktiziert, was Henry Kissinger den Völkern für solche Fälle wie den der beiden Deutschländer rät: „Es gibt keine Aussöhnung, wenn man sich einander nicht zusichert, ehrenhaft gehandelt zu haben.“
    3. Die die Fragen der Zusammenführung beider Armeen bearbeitenden Generale, Admirale und Offiziere beider Armeen hatten bis zum August 1990 einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Die Gleichheit der elementaren Sicherheitsbedürfnisse und –interessen der beiden deutschen Staaten, für die die beiden Armeen als gefolgsamste Institutionen ihrer Staaten aufrechterhalten wurden, konnte das sie verbindende Band sein oder werden. Sie erkannten sich schließlich gegenseitig zu, dem Frieden in Deutschland und in Europa verpflichtet gewesen zu sein und für ihn ihre Beiträge geleistet zu haben. Dokumentarischen Ausdruck fand das in einer ganzen Reihe von Projekten und Konzeptionen:
      Die NVA positionierte sich im Februar 1990 in den „Standpunkten über die Einheit Deutschlands und die deutschen Streitkräfte“. In ihnen wurde eine mögliche Stärke gesamtdeutscher Streitkräfte von etwa 300 000 Mann begründet und von einer Fusion der beiden deutschen Armeen ausgegangen. Das geschah lange vor dem Nordkaukasustreffen Gorbatschows und des Bundeskanzlers am 15. und 16. Juli. Man einigte sich dabei auf f370 000. Im Juli1995 wurde beschlossen, die Personalstärke der Bundeswehr auf 340 000 herabzusetzen. Die im Februar 1990 angenommenen 300 000 waren nicht weit weg von der nach sechs Jahren eintretenden Realität.
      Das Datum des 23. Mai 1990 trägt ein Positionspapier der Stabsabteilung III des Führungsstabes der Bundeswehr. In ihm findet man solche Thesen wie:
      1. Aufstellung gemeinsamer deutscher Streitkräfte in maximal fünf Jahren;
      2. Notwendigkeit der Umgliederung und Umstrukturierung der NVA zum Teil deutscher Streitkräfte;
      3. Begründung der Brückenfunktion Deutschlands in Europa und auch im militärischen Bereich sowie Hinführung der Beziehungen der deutschen Streitkräfte zu anderen Armeen auf die Perspektive einer übergreifenden Struktur kooperativer Sicherheit im Rahmen des KSZE-Prozesses.

      Seit Juni 1990 wurde gemeinsam an den Aufgaben, der Gliederung und dem nominellen Bestand einer Streitkräftekommission gearbeitet.
      Der NVA als dem einzubringenden Teil blieb es vorbehalten, eine Konzeption zur Zusammenführung der beiden deutschen Armeen zu erarbeiten. Sie wurde Anfang Juli dem Führungsstab überreicht. Die Konzeption ging vom Verständnis der Armee der Einheit aus, das sich gründet auf der anteilmäßigen Vertretung von Ostsoldaten in den gemeinsamen Streitkräften. Die Anteile bestimmten Bevölkerung und Territorium, die in das einige Vaterland eingebracht wurden. Die Konzeption wurde in Bonn aufmerksam studiert und mag bei der Endkonfiguration der Bundeswehr durchaus ihre Rolle gespielt haben.

    4. Nach Verarbeitung der im Nordkaukasus getroffenen Übereinkünfte begannen die Bearbeiter von Grundsatzfragen in Bonn nach einer neuen strategischen Formel zu denken: „1+1=0.7“, ihr Vorläufer hieß „1+1=1“, die Ausgangsformel „1+1=2“. In allen drei Formeln erschien als einer der strategischen, nicht arithmetischen, Summanden die NVA. Der anteilmäßige Ansatz für gesamtdeutsche Streitkräfte schien nicht gefährdet. Auch nicht nach dem Verständnis der Formelschöpfer.
      Daher konnte davon ausgegangen werden, dass Vorschlägen von sicherheits-, militärpolitischen und militärischen Grundaussagen für den Einigungsvertrag, den das MfAV unterbreitete, die wesentlichen Schlussfolgerungen und Empfehlungen zugrunde zu legen, die der Zusammenführungskonzeption entsprechen.
      Dem ersten Entwurf eines solchen Beitrages vom 02.08.1990 wurde kein Gegenprojekt entgegengestellt. Es sei zwar alles sehr ordentlich, aber diese Fragen bedürften nicht eines eigenständigen Artikels, empfand das Gremium der Staatssekretäre beider deutscher Staaten. Das überfrachte den Einigungsvertrag, Protokollvermerke und Anlagen täten es auch! In der entscheidenden Verhandlungsrunde der Staatssekretäre in der Zeit vom 20. bis 24. August 1990 in Bonn wurde erreicht, dass der 2. Beitragsentwurf aus dem Vertragsentwurf verschwand und damit alles, was an Vorstellungen über das Schicksal der Soldaten der DDR, an personellen und strukturellen Vorstellungen über eine wahre Armee der Einheit vorlag.
      Die hohe Politik, die sich in Ost und West im Sommerurlaub befand, hatte sich durch die Staatssekretäre den Freiraum schaffen lassen, der den bekannten Umgang mit den DDR-Soldaten ermöglichte. Erklären kann man sich das eigentlich nur damit, dass die sensible deutsche Militärfrage seit Juli 1990 nur noch eine deutsche innenpolitische Angelegenheit geworden war. Den anderen deutschen Soldaten sollte nicht verziehen werden, dass sie auf deutschem Boden einem anderen Eigentumssystem gedient hatten. Es galt nicht mehr für die Soldaten beider Armeen, dass sie wie alle Soldaten dem Primat der Politik unterworfen und an den Eid gebunden waren und deshalb ein Leben lan in der Pflicht standen.
    5. Die NVA hatte im unmittelbaren Wendeprozess und danach Charakter bewiesen. Im August noch erkühnten sich hohe, nach der Einigung höchste, Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums zu Aussagen, die sie als unabänderliche Willensbekundungen der Politik bezeichneten, die aber das genaue Gegenteil der späteren Realität waren. Offensichtlich sollte verhindert werden, dass der ...

      (hier fehlt die Seite 15 des Manuskripts)

      Das kann die Annahme der Redlichkeit und der Ritterlichkeit des Umgangs miteinander in einer atemberaubenden und verantwortungsvollen Zeit in Zweifel stellen. Das würde mir Leid tun. Nicht deshalb, weil man schon heute mit dem Finger auf mich zeigt als den für die Misere der NVA-Angehörigen Schuldigen. Ich war mit den Fragen der so genannten Zusammenführung der beiden deutschen Armeen unmittelbar befasst. ‚Es würde mir besonders um die Geschichte des deutschen Militärwesens Leid tun.

ZU EINEM NACHGEREICHTEN NVA-BILD

Unmittelbar nach der Herstellung der Einheit begannen Pauschalurteile über die NVA die elektronischen und Printmedien zu überfluten. Manche fanden Aufnahme in Regierungspapieren. Heute erscheinen sie als nachgelieferte Begründung für den Umgang mit den anderen deutschen Soldaten. Lassen Sie mich die wichtigsten dieser Pauschalurteile nennen und werden!

Staatsnähe. In der Bundeswehr ist das Soldatengesetz die verbindliche Grundlage für das soldatische Dienen. Es wird durch die enge Wechselbeziehung zwischen zwei Partnern, den Repräsentanten des Staates und den Dienenden, gekennzeichnet. Beide müssen sich aufeinander verlassen können. Die NVA verstand sich als eine durch Gehorsamsbeziehungen an den Staat gebundene Institution. Der Dienst und die Ausbildung in der NVA galten in der Tat als Staatsaufgaben 1. Ordnung. Sie sind nur durch Nähe zum Staat und nicht durch Distanz zu ihm zu erfüllen. Eine Armee, die dem staatlichen Gebot nicht Folge leistet, die nicht gehorchen soll oder kann, ist keine einsatzfähige Armee. Mit ihr erübrigen sich die bedeutenden Aufwendungen für alle.

Parteiarmee. In allen Staaten nimmt die politische Entscheidungselite unmittelbaren Einfluss auf die Streitkräfte. Sie wäre bei einem anderen Verhältnis zu ihnen auch schlecht beraten. Diese Praxis gibt es auch in der BRD. Nach der Verfassung der DDR verwirklichte die SED ihre führende Rolle in allen gesellschaftlichen Bereichen, darunter in der NVA. Niemand fiel es bisher ein, die DDR-Wirtschaft und –Kultur z. B. SED-Wirtschaft und –Kultur zu nennen. In Afrika nannte man die NVA kritisch und respektvoll „Rote Preußen“. Sie kann nach Vertrautmachen mit den Gegebenheiten in der DDR auch durch die politische Klasse der BRD nicht als SED-Organisation angesehen werden. Die zur Lösung von möglichen Führungsaufgaben in der NVA einzig denkbaren Sicherheitsabteilungen auf der Ebene des Zentralkomitees und der Bezirksleitungen hatten dazu nicht die geringsten Voraussetzungen. Die Truppen wurden von Kommandeuren geführt, die Mitglieder der SED waren. Über sie und die Arbeit der Parteigrundorganisationen „führte“ die SED die NVA. Als die NVA sich von der SED löste, setzten die Chefs/Kommandeure ihre gewohnte Führungsarbeit selbstbewusst fort, garantierten die volle Sicherheit und Unantastbarkeit der brisanten Kampftechnik und Gefechtsmittel, gewährleisteten einen organisierten Tagesablauf in den Garnisonen und brachten ihre „unbesiegte“ Armee in die Einheit der Deutschen ein.

Knochenmühle. Im Unterschied zur Bundeswehr sah die NVA bis zum Eintritt in die Phase der Selbstreformation das Hauptkriterium ihrer Existenzberechtigung nicht in der Gestaltung eines Bereichs des uniformierten Staatsbürgers, sondern des Waffen tragenden und –kundigen Verteidigers der Heimat. Der östliche Volksteil sollte sich auf seine Soldaten verlassen können. Das hatte eine harte und lastenreiche gemeinsame Arbeit von Vorgesetzten und Unterstellten zur Folge. Die Auffassungen der Bundeswehr wurden nicht geteilt, dass sich der Bürger bei den Soldaten zu allererst „wie bei Muttern“ einrichten und fühlen muss. Der Wehrdienst wurde für einen Lebensabschnitt gehalten, in dem der junge Bürger mehr geben muss, als er erhält. Auch heute noch haben Ehemalige der NVA ihre Schwierigkeiten mit offizieller Kritik und Urteilen, die sich gegen Härte und Risikobereitschaft in der Ausbildung bei Gattungen der Bundeswehr richten. Sie hielten es mit Friedrich von Blankenburg, der in seiner 1797 in Leipzig erschienen Lebensbeschreibung des preußischen Kavallerie-Generals von Seydlitz (Repintdruck, Biblioverlag, Osnabrück, S 13) dazu schrieb: „Alles was, ohne dem Dienste und der öffentlichen Ruhe nachteilig zu werden, den Geist der kühnen Unternehmung und Entschlossenheit in dem Soldaten, während dem Frieden, aufrecht zu erhalten vermag, verdient die größte Aufmerksamkeit, und es ist eine übel angebrachte Schonung, ihm dasjenige, was hierzu erforderlich ist, ersparen zu wollen. Man bildet dadurch nicht Soldaten aus, sondern Figuren von Soldaten; sie erlangen höchstens nur das, was ihnen das Ansehen von Soldaten gibt, nicht das, was zu Soldaten macht …“

Interventionsarmee. Die NVA hat nachweislich auch in Krisen und Konflikten im Kalten Krieg die Schwelle zu Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen nicht überschritten. Die DDR und die NVA wurden wegen ihrer Rolle und Haltung bei den Ereignissen der Jahre 1961, 1968 und 1980/1981 durch kein internationales Gremium oder in anderem völkerrechtlichen Sinne angeklagt oder verurteilt. Von den genannten Hauptphasen des Anschwellens der Spannungen im Kalten Krieg wurden mittelbar oder unmittelbar fünf der sechs Divisionen der ständigen Gefechtsbereitschaft berührt. Die 1. und 8. MSD waren maßgeblich an der Aktion zur Errichtung der Berliner Mauer beteiligt. Die NVA hatte keinen Grund, strenger über sich zu urteilen, als es namhafte westliche Politiker taten. Franz Josef Strauß z. B. schreibt in seinen Memoiren „Die Erinnerungen“ (Siedler Verlag, 1989, S. 388) zu der sich damals neu entzündenden Berlin-Krise: „Ein in diesem Zusammenhang ausgebrochener Krieg hätte also weitgehend in Europa stattgefunden, und zwar als konventioneller Krieg, dem die USA eine nukleare Komponente hinzufügen konnten. Solche Überlegungen sind am Sonntag, dem 13. August 1961, zum Glück Makulatur geworden.“

Die 11. MSD und 7. PD gehörten zur operativ-strategischen Truppengruppierung für die Verhinderung eines möglichen Missbrauchs der zugespitzten Krise in der CSSR  für militärstrategische Interessen der westlichen Konfrontationsseite. Beide Verbände betraten weder im August 1968 noch später den Boden des südlichen Nachbarlandes. Die 9. PD wurde in Planungen der Bündniszentrale einbezogen und auf ihre Rolle in ihnen orientiert. Sie fanden dank der klugen polnischen Politik keine Realisierung.

Feindbild und Hasserziehung. Bundesverteidigungsminister Georg Leber sagte für die Bundeswehr durch entsprechende Passagen in der Ziffer 75 des Weißbuches 1973/74 „Zur Sicherung der Bundesrepublik Deutschland und zur Entwicklung der Bundeswehr“ vom Feindbild ab. Das im Gedächtnis Gespeicherte ist jedoch nicht so einfach wegzupostulieren. Der Blick auf das soldatische Gegenüber hat Elemente des Feindes, Gegners und Partners bis in die Phase der „Zusammenführung“ der beiden deutschen Armeen nicht so leicht voneinander trennen können. Die beiden deutschen Armeen gehörten schließlich zu unterschiedlichen Militärblöcken, die gegeneinander aufgestellt und deren Waffen gegeneinander gerichtet waren. Die Truppen lagen sich in manchen Abschnitten jahrzehntelang nur wenige Kilometer gegenüber. Dieses einander ausschließende Gegenüber- und Entgegenstehen qualifiziert das Militärwesen als Gegnerschaft und die konträren Seiten als Gegner. Beide deutsche Armeen liebten sic daher nicht. Eine von den jeweiligen Verbündeten isolierte Duellsituation zwischen beiden gab es nicht.  Wäre eine der Koalitionsgruppierungen in das Hoheitsgebiet des anderen eingedrungen, hätte das tiefe Feindschaft ausgelöst. Die Soldaten beider deutscher Armeen wären bittere Feinde geworden. Als Antriebsmotor und Abwehrreaktion gegen die Existenzbedrohung hätte die Soldaten Hass erfasst. Er hätte eine andere Dimension als jener Hass angenommen, der sich höchst Affekt betont zwischen Individuen herausbilden kann. Das ist nicht die Erfindung von Ideologen, sondern die Erfahrung der Kriege und militärischen Konflikte. Für den erfolgreichen Kampf im Feuerduell um das Treffen mit dem ersten Schuss, der ersten Salve als Bedingung für das eigene Überleben reichen Befehle und Feuerkommandos nicht. In beiden Armeen war man sich dieser Zusammenhänge voll bewusst. Die persönlichen Erfahrungen der Väter vertieften sie. Der Einsatz der Vernichtungsmittel ist nie ein Akt der Liebe und Zuneigung. Bis auf den heutigen Tag gilt, dass man keine Feinde bekommt, wenn man keinen Gegner hat oder sich schafft.

Meine Damen und Herren!

Die eigentliche NVA, wie sie ihre Soldaten verstanden, die DDR-Bürger trotz mancher Ressentiments gegen ihr soldatisches Selbstverständnis sahen und erlebten sowie die vielzähligen Manöverbeobachter zu respektieren gelernt hatten, entschwindet. Manche DDR-Soldaten haben den verfänglichen Weg beschritten, sie allmählich mit den Augen derer zu sehen, die das künstliche NVA-Bild brauchten und brauchen. Dahinter steht das „Wenn-dann“-Argument. Nach ihm sind einige Wege verschlossen, wenn ein bestimmtes Urteil über eine bestimmte Institution gefällt werden kann. Dann bleibt von einer beträchtlichen Zahl von Möglichkeiten nur noch eine geringe gangbar. Geringschätzung und Entwürdigung wurden gewählt und erwiesen: der NVA wurde nicht zugebilligt, ihre Geschichte mit militärischen Ehren zu beenden: fast alle ehemaligen Angehörigen der NVA gehören nicht mehr den Streitkräften an; sie finden nur schwer Arbeit; ihr ehrenvoller und harter Dienst, ihre soldatischen Leistungen und Erfahrungen werden abgewertet. So war das in der Phase der Annäherung zwischen den beiden deutschen Armeen weder angedacht noch vermutet worden.

Was mit den Angehörigen der NVA geschah, schlägt aus der Art der Deutschen. Es steht ihnen im lauthals erklärten Ringen um die innere Einheit der Deutschen schlecht zu Gesicht. Auch für manche Nachbarn in Ost und in West offenbart sich darin ein horrender Widerspruch zu den geistigen Voraussetzungen, die von den beiden Konfliktseiten geschaffen wurden und die die Beendigung des Kalten Krieges in allen seinen Dimensionen, auch zwischen den beiden deutschen Staaten, ermöglichten.

Es sollte keinen verwundern, wenn sich die im geeinten Vaterland nicht mehr gebrauchten NVA-Soldaten ihrer Identität nicht schämen und sie sich von niemandem nehmen lassen.

 

GM a.D. Hans-Werner Deim war Chef Operativ im Hauptstab der NVA

 

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oker, 20.01.2009