Datum 10. Oktober 1997
Ereignis 89/10/10/00/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis BStU, MfS, Neiber 181
Quellenabschnitt Bl. 118-122
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HA I, AKG, Berlin 10. Oktober 1989

Information über das Stimmungs – und Meinungsbild unter Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der GT/DDR

Das Stimmungs – und Meinungsbild unter allen Personenkreisen wird wesentlich von den Zusammenrottungen und Krawallen der letzten Tage, der Diskussion über mögliche Auswirkungen der provokatorischen Ausschreitungen und anti-sozialistischen Aktivitäten oppositioneller Kräfte sowie der Erörterung von Varianten zur Beruhigung der innenpolitischen Lage bestimmt.

Die Bewertung der aktuellen Ereignisse wird in allen Bereichen übereinstimmend von folgenden Tendenzen bestimmt:

- Ablehnung der rowdyhaften Ausschreitungen und Befürwortung des konsequenten Vorgehens der Sicherheitskräfte.

Als typisch für die Haltung der meisten Offiziere ist die Stellungnahme eines Angehörigen der MAK 'Friedrich Engels’ anzusehen:

“Die gegenwärtigen Ereignisse zeigen nach langer Zeit wieder deutlich, dass der Klassenkampf auch in Form von Gewalt nicht aus dem Instrumentarium des Gegners gestrichen ist. Der harte Kern dieser aufgeputschten Menge ist nicht mehr für die Ziele des Sozialismus zu gewinnen. Es kommt darauf an, die Frage der Macht zu unseren Gunsten zu entscheiden und deshalb unverzüglich zu handeln.“

In den Reaktionen von Soldaten gibt es erste Anzeichen für Zweifel an der Angemessenheit des Einsatzes von Armeekräften. Sie empfinden diesen gegenüber dem ‚Mob’ gerechtfertigt, sehen sich nun jedoch zunehmend mit ‚friedlichen’ Demonstranten konfrontiert, mit denen man ihrer Meinung nach reden sollte.

- Massive Kritik an die Informations – und Medienpolitik, die als verantwortungslos, ignorant, defensiv und demzufolge ungeeignet angesehen wird, die Massen für die Unterstützung unseres Vorgehens zu gewinnen und die Anstifter und Rädelsführer der Krawalle bloßzustellen und zu isolieren. Die Kritik wird immer offener und fordernder vorgetragen. So hat eine SED-Grundorganisation der Sektion Gesellschaftswissenschaften der OHS ‚Franz Mehring’ in einem Beschluss gefordert, in den Massenmedien offener über Entwicklungsprobleme unseres Landes zu berichten und die Mitglieder und Kandidaten der SED umfassender zu informieren, um so die Handlungsfähigkeit der Partei und deren Einfluss zu erhöhen.
Angehörige des Armeelazaretts Dresden reagierten angesichts der z.T. schweren Verletzungen von Sicherungskräften verbittert auf die ihrer Meinung nach entstellende und abgeschwächte Berichterstattung in unseren Medien.
- Wachsende Besorgnis, daß die entstandene Situation außer Kontrolle gerät und gravierende negative Folgen für die Gesellschaft entstehen, die den Bestand des Sozialismus in der DDR gefährden.

Die Erwartung, daß führende Funktionäre sich zur aktuellen Lage äußern wird immer größer. Viele verlangen eine Stellungnahme des Generalsekretärs. Verlangt werden konkrete Entscheidungen und Orientierungen wie die angestauten Probleme gelöst werden können.
Bei den Überlegungen vieler Berufskader, auch in verantwortungsvollen Positionen, widerspiegelt sich, daß sie in ihrer Lagebeurteilung zu der Schlußfolgerung gelangt sind, im gesellschaftlichen Leben der DDR seien Veränderungen erforderlich.

Die politischen und ökonomischen Grundlagen unserer Gesellschaft und unserer Wertvorstellungen werden bei solchen Überlegungen nicht in Frage gestellt.
Vielmehr sei es notwendig, die verunsicherten, und wie einige meinen, sich in steigender Zahl vom zur Zeit ‚praktizierten’ Sozialismus abwendenden Menschen durch mehr Offenheit und die bessere Einbeziehung bei zu treffenden Entscheidungen zurückzugewinnen.
Die jetzt ergriffenen Maßnahmen (Visapflicht bei CSSR-Reisen, massierter Einsatz von Sicherheitskräften) werden als notwendig zur Eindämmung der negativen Erscheinungen begrüßt, für die Herbeiführung dauerhafter positiver Veränderungen aber als wenig wirkungsvoll und nicht tragfähig angesehen.
So kam der GM [Generalmajor] (Stellvertr. des Chef der MAK [Militärakademie] „Friedrich Engels“ und Chef Wissenschaft und Forschung) zu der Auffassung:

“Wir müssen mit den Menschen ins Gespräch kommen, die uns wohl gesonnen sind. Dazu muss die Partei mobilisiert und ihre Funktionäre vorbereitet werden.
Ich bin auch der Meinung, daß es der Partei nichts schadet, wenn sie zum Beispiel 200.000 Mitglieder verliert. Wir müssen nur aufpassen, daß dies nicht die falschen Genossen sind, die sich echt um unsere Entwicklung sorgen. Weiterhin haben wir acht zu geben, dass die Arbeiterklasse bei den zu treffenden Entscheidungen nicht ausgeklammert wird, eine echte Volksaussprache geführt wird und nicht wieder Entscheidungen vom grünen Tisch fallen.
Dabei geht es meines Erachtens nicht um eine grundlegende Wende, die wir gar nicht nötig haben. Aber es müssen einige Sachen angegangen werden, z.B. Fragen des Leistungsprinzips.“

Der GM Schlothauer (Chef des Stabes im Kdo. [Kommando] MB [Militärbezirk] III) schlußfolgerte aus der nicht größer werdenden Anzahl der Demonstranten, daß die Masse der Bevölkerung hinter der Politik des Staates steht und man „jetzt mit allen Menschen reden und ihnen klarmachen muss, wie wir die Probleme lösen wollen, damit wir nicht noch mehr Menschen verlieren“.
(Beide Beispiele sind nur im MfS auswertbar)

Die Forderung, nach einem breiten öffentlichen Meinungsaustausch über die entstandene Situation sowie die Ziele und Wege der weiteren Entwicklung unserer Gesellschaft wurde von mehreren Offizieren erhoben.

Einige Berufskader sprechen sich für einen Dialog auch mit den Vertretern des „Neuen Forums“ aus. (Im BGK-2/Magdeburg wird in der Unkenntnis über Ziele und Inhalte der Arbeit des „Neuen Forums“ eine Ursache der Unterstützung und Befürwortung dieser Gruppe gesehen.)

Den Partei – und Staatsorganen aller Ebenen wird

- Verunsicherung und Konzeptionslosigkeit,
- Inaktivität und
- mangelndes Vertrauen in die eigene Bevölkerung vorgeworfen.

so bedauert ein General der MAK [Militärakademie], „daß sich immer mehr ein Spalt entwickelt zwischen der Parteiführung und der breiten Masse der Mitglieder“.

Politisch negative Kräfte in den Streitkräften fühlen sich durch die ‚Erfolge’ der oppositionellen Kräfte in ihren Ansichten bestärkt und zu eigenen Aktivitäten ermuntert. Das belegen

- das Ansteigen der Zahl von Hetzschmiereien,
- das offene Bekenntnis zu den Ideen des 'Neuen Forums’,
- mangelndes Vertrauen in die eigene Bevölkerung vorgeworfen.
- die Teilnahme an bzw. Anwesenheit bei Demonstrationen
und
- in Einzelfällen geäußerte Erwartungen, dass es in der DDR ‚kippen und endlich andersherum gehen werde’.


Bausoldaten des IBB 40 /Kdo. LaSK [Ingenieurbaubataillon 40 / Kommando Landstreitkräfte] schlußfolgerten:

Die Demonstrationen in Berlin haben gezeigt, daß man auch im Zentrum der Macht den führenden Politikern Angst machen kann.“

Verteiler:

- Stellv. [Stellvertreter] des Ministers,
Gen.[osse] Generalleutnant Neiber
- ZAIG/Bereich I/Leiter
- Leiter Hauptabteilung I
   
interne Nummer 0027