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Bericht der Zentralen Auswertungs – und Informationsgruppe
(ZAIG)
Aus allen Bezirken der DDR liegen umfangreiche Hinweise vor über
massive Kritiken der Werktätigen, die auch von Mitgliedern der
SED getragen werden, an einer Vielzahl von Funktionären der Bezirks-
und vor allem der Kreisleitungen der SED, an wirtschaftsleitenden Kadern
sowie leitenden Mitarbeitern der Räte der Bezirke und der Kreise,
weil sie sich nicht den Fragen der Werktätigen stellen. Es sei
völlig unverständlich, so wird geäußert, daß
diese Funktionäre so weiterarbeiten wie bisher. Vielfach scheuen
sie die Öffentlichkeit, lassen sich seit Wochen nicht in den Betrieben
sehen. [...]
Unter den verantwortlichen Funktionären herrsche eine „lähmende
Ohnmacht" gegenüber der Situation, die in vielen Fällen
bis zur Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit ginge.
Ursachen dafür werden nach Meinung progressiver Kräfte vor
allem darin gesehen, daß diese Funktionäre nicht fähig
und auch nicht willens seien, sich das Wesen der neuen Politik zu erschließen.
Sie verharrten in alten Denkschablonen und hätten es verlernt,
offen auf Arbeiterart zu sprechen. Offensichtlich fühlten sie sich
einem Streitgespräch mit den Arbeitern nicht gewachsen. Vor allem
befürchteten sie wohl, so äußern sich viele Arbeiter,
mit konkreten und für sie unangenehmen Fragen nach ihren bisher
in Anspruch genommenen Privilegien sowie nach ihrer persönlichen
Verantwortung konfrontiert zu werden und eigene Konsequenzen diesbezüglich
offensichtlich ziehen zu müssen.
In diesem Zusammenhang spitzen sich Forderungen nach Kaderveränderungen
in Führungsfunktionen der Bezirke und Kreise zu. [...]
Zu den in den Bezirken und der Hauptstadt der DDR anhaltend stattfindenden
Demonstrationen und Bürgergesprächen gibt es unter der Bevölkerung
ein differenziertes, z.T. auch widersprüchliches Meinungsspektrum.
[...]
Unter großen Teilen der Bevölkerung kommt es immer wieder
zu Sympathiebekundungen für das „Neue Forum". So sehen
u.a. Angehörige der medizinischen und wissenschaftlich-technischen
Intelligenz, Studenten und Schüler/Lehrlinge, Genossenschaftsbauern,
selbständige Gewerbetreibende, Kunst- und Kulturschaffende sowie
religiös gebundene Personen, aber zunehmend auch Arbeiter, im „Neuen
Forum" die einzige gesellschaftliche Kraft, die wirkliche Reformen
und Veränderungen anstrebt.
Eine antisozialistische Zielstellung des „Neuen Forums" wird
in Abrede gestellt und nachdrücklich die Frage nach der Rechtmäßigkeit
der Ablehnung seiner Zulassung als Vereinigung aufgeworfen. [...]
In vielen Diskussionen und Gesprächen der Werktätigen werden
breitgefächerte Erwartungshaltungen im Zusammenhang mit der bevorstehenden
10. Tagung des ZK der SED zum Ausdruck gebracht. Fest gerechnet wird
mit weiteren Kaderveränderungen sowie mit der Beschlußfassung
über Maßnahmen zur Stabilisierung der Volkswirtschaft und
der Versorgung.
Grundtenor der Meinungsäußerungen ist, die bisherige Parteiführung
habe das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ihr wird die
Fähigkeit und auch der ehrliche Wille zur Durchsetzung von Reformen
und Veränderungen grundsätzlich abgesprochen.
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