Datum 06. November 1989
Ereignis 89/11/06/00/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis BStU, ZA, ZAIG 4263
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Text

Bericht der Zentralen Auswertungs – und Informationsgruppe (ZAIG)

Aus allen Bezirken der DDR liegen umfangreiche Hinweise vor über massive Kritiken der Werktätigen, die auch von Mitgliedern der SED getragen werden, an einer Vielzahl von Funktionären der Bezirks- und vor allem der Kreisleitungen der SED, an wirtschaftsleitenden Kadern sowie leitenden Mitarbeitern der Räte der Bezirke und der Kreise, weil sie sich nicht den Fragen der Werktätigen stellen. Es sei völlig unverständlich, so wird geäußert, daß diese Funktionäre so weiterarbeiten wie bisher. Vielfach scheuen sie die Öffentlichkeit, lassen sich seit Wochen nicht in den Betrieben sehen. [...]
Unter den verantwortlichen Funktionären herrsche eine „lähmende Ohnmacht" gegenüber der Situation, die in vielen Fällen bis zur Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit ginge.
Ursachen dafür werden nach Meinung progressiver Kräfte vor allem darin gesehen, daß diese Funktionäre nicht fähig und auch nicht willens seien, sich das Wesen der neuen Politik zu erschließen. Sie verharrten in alten Denkschablonen und hätten es verlernt, offen auf Arbeiterart zu sprechen. Offensichtlich fühlten sie sich einem Streitgespräch mit den Arbeitern nicht gewachsen. Vor allem befürchteten sie wohl, so äußern sich viele Arbeiter, mit konkreten und für sie unangenehmen Fragen nach ihren bisher in Anspruch genommenen Privilegien sowie nach ihrer persönlichen Verantwortung konfrontiert zu werden und eigene Konsequenzen diesbezüglich offensichtlich ziehen zu müssen.
In diesem Zusammenhang spitzen sich Forderungen nach Kaderveränderungen in Führungsfunktionen der Bezirke und Kreise zu. [...]
Zu den in den Bezirken und der Hauptstadt der DDR anhaltend stattfindenden Demonstrationen und Bürgergesprächen gibt es unter der Bevölkerung ein differenziertes, z.T. auch widersprüchliches Meinungsspektrum. [...]
Unter großen Teilen der Bevölkerung kommt es immer wieder zu Sympathiebekundungen für das „Neue Forum". So sehen u.a. Angehörige der medizinischen und wissenschaftlich-technischen Intelligenz, Studenten und Schüler/Lehrlinge, Genossenschaftsbauern, selbständige Gewerbetreibende, Kunst- und Kulturschaffende sowie religiös gebundene Personen, aber zunehmend auch Arbeiter, im „Neuen Forum" die einzige gesellschaftliche Kraft, die wirkliche Reformen und Veränderungen anstrebt.
Eine antisozialistische Zielstellung des „Neuen Forums" wird in Abrede gestellt und nachdrücklich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Ablehnung seiner Zulassung als Vereinigung aufgeworfen. [...]
In vielen Diskussionen und Gesprächen der Werktätigen werden breitgefächerte Erwartungshaltungen im Zusammenhang mit der bevorstehenden 10. Tagung des ZK der SED zum Ausdruck gebracht. Fest gerechnet wird mit weiteren Kaderveränderungen sowie mit der Beschlußfassung über Maßnahmen zur Stabilisierung der Volkswirtschaft und der Versorgung.
Grundtenor der Meinungsäußerungen ist, die bisherige Parteiführung habe das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ihr wird die Fähigkeit und auch der ehrliche Wille zur Durchsetzung von Reformen und Veränderungen grundsätzlich abgesprochen.

   
interne Nummer 00012