|
Gespräch Hans-Hermann Hertle mit Gerhard Lauter
Berlin, 24.2.1992
[Gerhard Lauter war im November 1989 Leiter der Hauptabteilung Pass
– und Meldewesen im Ministerium des Innern und beauftragt am Morgen
des 9. November die Vorlage für die neue Reiseregelung auszuarbeiten.]
![](../../../colors/_transparent.gif) |
![](../../../colors/_transparent.gif) |
Hertle: |
Dieser Auftrag wurde Ihnen mündlich erteilt? |
Lauter: |
Ja. Es gab da keine schriftlichen Aufträge. Mau bekam einen
Anruf, dann leuchtete auf dem Tableau mit den vielen grünen
Knöpfen ein roter auf und man wußte, das ist ein großer
Auftrag. Diesen Anruf stellte dann auch nicht die Sekretärin
durch, sondern man kam gleich selber ins Gespräch. Ich bin
mir nicht mehr sicher, ob es Friedrich Dickel oder Lothar Ahrendt
war, der mir diesen Auftrag erteilt hat. Aber das hätte in
der Sache keine Rolle gespielt, denn wenr Dickel nicht im Haus war,
hat Ahrendt amtiert, und damit war es die gleiche Befehlshierarchie.
Der Auftrag lautete weiter, daß ich mich dazu am nächsten
Morggen mit verantwortlichen Mitarbeitern des MfS zusammensetzen
solle - obwohl ich dafür gar nicht zuständig war. Die
Regelung der ständigen Ausreise oblag nämlich staatlich
gesehen der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten im innenministerium
der DDR, die für die Arbeit der Abteilungen Innere Angelegenheiten
der örtlichen Räte zuständig war. Und dort lag ja
das Problem der Antragstellunc und Entscheidung für ständige
Ausreisen, während bei mir zu diesem Zeitpunki die Verantwortung
für die 'normalen' Reisen lag. Komischerweise wurde ich beauftragt.
Ich habe zunächst geschluckt; erstmal war ich nicht zuständig,
aber das zeigt schon die Hektik der Zeit, daß die gar nicht
mehr so genau wußten, wer da der richtige Mann wäre.
Ich habe dann noch schnell zwischengefragt, soll das auch über
die Grenze nach West-Berlin laufen, weil das ja ein beachtenswerter
Punkt war - "Ja, ja, auch West-Berlin." Nur hatte man
wahrscheinlich nie darüber gesprochen, aber das fällt
einem dann so ein. Und ich wagte dann auch noch einzuwenden, da
ist doch eigentlich Gotthard Hubrich zuständig, so hieß
der leider zwischenzeitlich verstorbene Hauptabteilungsleiter für
Innere Angelegenheiten, den ich deshalb nicht mehr als Zeugen benennen
kann. "Ja, dann nimm' den morgen dazu. Und dann kommen zu dir
zwei vom MfS 'rüber, Ihr setzt Euch zusammen und stimmt das
kurzfristig mit der Abteilung Sicherheit im ZK ab und dann legen
wir die Regelung vor." Die beiden vom MfS waren der Leiter
der Rechtsstelle, Dr. Udo Lemme, und der stellvertretende Leiter
der Hauptabteilung VII, Dr. Joachim Krüger. Wir kannten uns
von der gesamten Arbeit am Reisegesetz und aus früheren Gegebenheiten.
Mit Udo Lemme hatte ich einmal gemeinsam an einer Generalamnestie
gearbeitet. Man kannte sich aus verschiedenen Formen der Zusammenarbeit,
die - wie gesagt - nicht institutionalisiert waren.
Wir haben uns dann am 9. November etwa um neun Uhr zusammengesetzt;
jeder hatte inzwischen diesen Auftrag. Mit Hubrich hatte ich mich
vorabgestimmt. Er war glücklich, daß er nun seine Probleme
in der DDR lösen konnte, daß es großzügig
'rausgehen sollte und er diesen entsetzlichen Druck los war. Es
hat doch keinem Mitarbeiter dieses Staates Spaß gemacht, den
Antragstellern auf ständige Ausreise ohne Begründung zu
sagen: "Du nicht!" Das war auch ein menschliches Problem.
Er war also glücklich und das andere interessierte ihn nicht
sonderlich - jeder ist ja doch so ein bißchen ein Fachidiot.
Insofern wurde vielleicht auch im nachhinein durch die Medien meine
Rolle an diesem Tag herausgehoben, weil ich Protest einlegte und
argumentierte, daß es wirklich eine Schizophrenie ist, jeden,
der mal seine Tante in Hamburg besuchen will und fest gewillt ist,
in die DDR zurückzukommen, nicht fahren zu lassen, aber jeden,
der das Land verlassen will, sofort fahren zu lassen - ohne Verfahren,
Prüfung oder Genehmigung, ohne alles, was bis dahin üblich
war. Ich habe gesagt, das können wir doch nicht machen, das
wird doch innenpolitisch völlig idiotisch, was hier dann abläuft. |
Hertle: |
Das war während der Sitzung am 9. November? |
Lauter: |
Ja. |
|
[...] |
Hertle: |
Sind Sie mit einer fertigen Vorlage in die Beratung am 9. November
gegangen? |
Lauter: |
Nein, das war zwischen uns nicht üblich. Es hatte sich eine
persönliche Art der Zusammenarbeit zwischen den leitenden Mitarbeitern
dieser Organe herausgebildet; dazu genörte auch, daß
man den anderen nicht mit fertigen Papieren überrascht hat,
sondern in diesem Kreis die Sache ausdiskutiert hat. Wenn man zu
einem Ergebnis gekommen war, hat man einen Mitarbeiter herangeholt
und dem das diktiert. Die Entwürfe hat man mehrmals diskutiert,
schreiben und kopieren lassen, und wenn man sie später dann
zum Lesen hatte, wurden sie so lange verändert, bis man zu
einem Konsens kam. In solchen Diskussionen gab es auch keine Dominanz
eines bestimmten Organs; in diesem persönlichen Kreis galten
die besseren Argumente. Oder aber es hatte jemand solche politischen
Vorgaben, daß er nicht von seiner Position weg konnte, das
gab es auch. Dann lag die Dominanz bei den Vertretern des MfS, weil
sie den Direktdraht zum Politbüro hatten und sich auf politische
Vorgaben des Generalsekretärs berufen konnten. Das konnten
wir als Mitarbeiter des MdI nicht, weil unser Minister in diesem
Gremium nicht vertreten war und auch in der Regel erst über
Mielke informiert wurde.
Hertle: Die Mitarbeiter des MfS hatten ihren Auftrag von Mielke
direkt erhalten?
Lauter: Ja. Solche brisanten Aktionen liefen meines Wissens im MfS
so, daß die beauftragten Leute zu ihrem Minister oder zum
amtierenden Minister gerufen wurden und von ihm persönlich
diesen Auftrag erhielten. Dann wurde in der Regel in Anwesenheit
dieser Mitarbeiter mit dem anderen Partner-Minister gesprochen und
gesagt: "Paß' mal auf, ich schicke dir jetzt die, und
die wenden sich an wen bei dir?" - in dem Fall war das also
Lauter - "und die setzen sich dann morgen zusammen und machen
das. Bis dahin macht sich mal jeder Gedanken, wie das aussehen könnte."
Und so kam am 9. November sicher jeder mit Gedanken, aber nicht
mit fertigen, vorbereiteten Papieren. |
Hertle: |
Sie brachten jetzt Ihre Gedanken aus dem Leiter-Gespräch
im Mdl mit; mit welchen Gedanken kamen denn die Mitarbeiter des
MfS? |
Lauter: |
Sie kamen erst mal mit der Intention, den Auftrag wortwörtlich
zu erfüllen, also die ständige Ausreise zu klären,
indem wir die ständige Ausreise über die Grenzen der DDR
lösen, um den Druck von der CSSR wegzunehmen. Das war ja offensichtlich
die Intention dieser Politbüro-Sitzung vom 7. November, wobei
sicher die Illusion mitgeschwungen ist, daß die Masse der
DDR-Bürger im Land bleiben wollte. Aber aus der Lagekenntnis
dessen, was sich in den Paß- und Meldestellen abspielte, den
Reisewünschen, den wahnsinnigen Konfrontationen zwischen Polizei
und Bürgern, die tagtäglich tausend- oder zehntausendfach
abliefen, war mir klar, daß das weder eine kurzfristige noch
gar eine mittelfristige Lösung hätte sein können.
Wir hatten exakte Zahlen über die Anzahl der Anträge,
auch über die Motive der Antragsteller und ihre soziale Zusammensetzung. |
Hertle: |
Trotzdem glaubten Sie, daß es nicht zu einem Massenexodus
aus der DDR kommen würde? |
Lauter: |
Nein, wenn bestimmte politische Bedingungen gesetzt würden.
Und wir standen ja noch unter dem Eindruck der Aufbruchstimmung
vom 18. Oktober mit der Erklärung von Krenz. Wir waren in einer
solchen Anspannung und auch der Hoffnung, ganz subjektiv, also jetzt
könnten wir es noch packen. Krenz hatte ja in seiner Erklärung
auch Anmerkungen zur Ökonomie gemacht und Öffnungen, marktwirtschaftliche
Elemente angedeutet; es wurde ein anderes Verhältnis zur Bundesrepublik
angekündigt, es gab die Telefonate mit Kohl und ... und ...
und. Diesen politischen Hintergrund muß man ja auch sehen.
Und wir hatten ja immer noch den Auftrag vor uns liegen, den Entwurf
des Reisegesetzes dahin zu führen, noch 1989 die Reisefreiheit
herbeizuführen. Im Prinzip hätte der 9. November auch
21. Dezember heißen können, und dann wäre er legal,
also nicht überraschend gelaufen. Das hatten wir alles im Hinterkopf,
man darf den 9. November ja nicht aus seiner Vor- und Nachgeschichte
herauslösen. |
Hertle: |
Wie kam es jetzt zu diesem berühmten Passus, der "Privatreisen
ohne da Vorliegen von Voraussetzungen" erlaubte und offensichtlich
den Auftrag des Politbüros sprengte? Wie haben denn Ihre Kollegen
vom MfS diskutiert? |
Lauter: |
Dieses Argument war einleuchtend. Ich habe nur auf die von uns
vorgelegten Berichte zur Situation des Reiseverkehrs und zur Ablehnung
des Reisegesetz-Entwurfes verwiesen und daß es aus meiner
Sicht im Interesse der Erhaltung der DDR politisch unverantwortlich
wäre, hier eine so einseitige Regelung zu erarbeiten; das wäre
aus meiner Sicht auf totales politisches Unverständnis gestossen
und hätte zu einer wirklichen Schizophrenie auf diesem Gebiet
geführt und dazu, daß die Welle der Anträge auf
ständige Ausreise enorm angestiegen wäre. Das habe ich
so gesehen, und ich glaube, diese Argumente - wir haben sicher länger
als fünf Minuten über diesen Passus diskutiert - haben
meine Partner überzeugt.
Wir wußten nicht, wie es ausgeht - nicht im Sinne von Bestrafung
oder Absetzung, die hätten das ja jederzeit ändern können.
Aber wir waren der Überzeugung, wir müssen eine Lösung
vorschlagen, die beide Seiten regelt. Und so steht unter dem Beschluß
des Politbüros "Zu Fragen der Regelung der ständigen
Ausreise von Bürgern der DDR über die Grenze der CSSR"
als erster Punkt "Privatreisen". Das paßt überhaupt
nicht zur Überschrift! |
Hertle: |
Der Entwurf wurde in Ihrem Arbeitszimmer erarbeitet. Welchen Weg
hat er dann genommen? |
Lauter: |
Das war kompliziert. An diesem Tage fand die 10. Tagung des Zentralkomitees
der SED statt, es war klar, daß Minister Friedrich Dickel
nicht im Haus war. Ich habe mit seinem Adjutanten - diese Funktion
gab es damals - ahgesprochen, daß er einen Weg findet, Friedrich
Dickel dieses Papier zuzuspielen und die Partner des MfS, wenn es
abgestimmt ist mit der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen -
und da gab es Zustimmung, denn das war ja so etwa der Auftrag -
es auch ihrem Minister geben und die es dann gemeinsam Krenz irgendwie
zuspielen.
Gegen Mittag waren wir fertig und mein Kraftfahrer hat den Entwurf
dann zum ZK gebracht. |
Hertle: |
Der erste Weg wäre jetzt gewesen, daß Sie die Zustimmung
von Dickel einholen... |
Lauter: |
...nein, daß ich ihm den abgestimmten Entwurf auf den Tisch
lege. So viel Vertrauen gab es; ich brauchte nicht mit ihm zu reden,
damit er einverstanden ist. Das mußte er dann schon dort selbst
sehen... |
Hertle: |
... gut, aber er mußte ihn erst einmal in die Hand bekommen,
und auf der anderen Seite doch wahrscheinlich Mielke ebenfalls? |
Lauter: |
Ja, das hat aber die andere Seite über ihre Wege organisiert...
|
Hertle: |
... ja... |
Lauter: |
... und das wurde getan. |
Hertle: |
Dann ging er ins ZK... |
Lauter: |
... und ab dann war das Papier für uns außer Kontrolle. |
Hertle: |
Sie wissen nicht, was dann weiter mit dem Papier passiert ist? |
Lauter: |
Nein. Ich weiß es nachträglich aus Veröffentlichungen
von Schabowski; das sind aber alles Versionen, die ich nicht verifizieren
kann. |
Hertle: |
Ein Kurier... |
Lauter: |
... hat das Papier ins Haus der Zentralkomitees gebracht. Ein
Kraftfahrer, ich glaube, es war sogar meiner, hat es in dieses große
Haus gebracht. Ich hatte mir bestätigen lassen, daß er
es beim richtigen Mann abgegeben hatte. Damit entzog sich die Sache
meiner Kontrolle. |
Hertle: |
Wer war der richtige Mann? |
Lauter: |
Na, Dickel dann. Das war ja der Adressat für mich. Ich kann
ja nicht üher seinen Kopf hinweg ein Papier des Innenministeriums
herausgeben, wenn er Minister ist; das geht nicht. |
Hertle: |
Die Rede Dickels kurz vor Mittag im ZK bietet keine Anhaltspunkte
dafür, daß er eine Vorstellung davon hatte, was Sie gerade
ausgeheckt hatten! |
Lauter: |
Nein, das kann er gar nicht. Es gab kein Gespräch. Ich glaube,
es gab am Morgen des 9. November ein kurzes Gespräch, da war
ich so für zehn Minuten heim Minister. Er bestätigte mir
noch mal den Auftrag und ließ sich bestätigen, daß
ich diesen auch richtig verstanden und Kontakt mit den Partnern
aufgenommen hatte. Es gab in dieser Zeit sehr viele kurze persönliche
Kontakte, wo man für fünf Minuten zum Minister gerufen
wurde. Da wurden Eilabfragen oder Eilaufträge erteilt zur Zusammenstellung
von Zahlenmaterial oder irgendwas - irgendwelche Berichte ganz schnell
oder ein Auftrag: Das kriegt man dann im Rückblick auf diese
Zeit auch nicht mehr zusammen. |
Hertle: |
Über die Richtung, wie Sie das bereits am 8. November diskutiert
hatten, war Dickel dann auch nicht informiert? |
Hertle: |
Bis zum Beginn der ZK-Sitzung nicht? |
Lauter: |
Nein. Ich muß auch ganz ehrlich sagen, daß mir zum
Zeitpunkt der Auftragserteilung, die sich innerhalb von wenigen
Minuten abspielte, die Tragweite und die Konsequenzen auch nicht
voll bewußt waren. Das ist erst beim Überdenken der Sache
entstanden. |
|