Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis Hans – Hermann Hertle (Hrsg.); "Das Ende der SED. Die letzten Tage des Zentralkomitees.";
Berlin 1997; Tonbandabschrift der ZK Sitzung
Quellenabschnitt ebenda S. 301
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Vors. Egon Krenz:
Ich danke sehr herzlich. Genossinnen und Genossen! Bevor Günther das Wort nimmt, muss ich noch mal von der Tagesordnung abweichen. Euch ist ja bekannt, daß es ein Problem gibt das uns alle belastet; die Frage der Ausreisen. Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als Belastung, wie ja früher auch die ungarischen. Und: Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt. Schließen wir die Grenzen zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können und auf diese Art und Weise ihren Einfluß auf uns ausüben. Selbst das hätte aber auch nicht - würde nicht dazu führen, daß wir das Problem in die Hand bekommen, denn die ständige Vertretung der BRD hat schon mitgeteilt, daß sie ihre Renovierungsarbeiten abgeschlossen hat. Das heißt, sie wird öffnen, und wir würden auch dann wieder vor diesem Problem stehen. [97]
Und der Genosse Willi Stoph hat als amtierender Vorsitzender des Ministerrates eine Verordnung vorgeschlagen, die ich jetzt hier doch verlesen möchte, weil sie vom Politbüro bestätigt worden ist, aber doch solche Wirkung hat, daß ich das Zentralkomitee nicht ohne Konsultation lassen möchte.
»Beschluß zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR Bürgern nach der BRD über die CSSR

Es wird festgelegt:

1. Die Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland findet bis zur Inkraftsetzung des neuen Reisegesetzes keine Anwendung mehr.
2. Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft:
a) Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.
b) Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich.
c) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.
d) Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.
3. Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November zu veröffentlichen.
Diese Mitteilung hat folgenden Wortlaut:
»Wie die Presseabteilung des Ministeriums des Innern mitteilt, hat der Ministerrat der DDR beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer folgende zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland in Kraft gesetzt wird.« [97]

Wegen der Besetzung des Gebäudes durch 130 ausreisewillige DDR-Bürger war die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin am 8. August 1989 für den Besucherverkehr geschlossen worden. An der Schließung wurde über das Ende der Besetzung hinaus festgehalten und dies mit dringend erforderlichen »Renovierungsarbeiten« begründet.
Und dann kommen faktisch die vier Punkte, die ich nicht noch einmal vorzulesen brauche. [98]

Ich sagte: Wie wir's machen, machen wir's verkehrt. Aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist. Genosse Hoffinann?

Hans-Joachim Hoffmann:
Genosse Krenz, könnten wir nicht dieses Wort »zeitweilig« vermeiden? Das erzeugt andauernd den Druck, als hätten die Leute keine Zeit und müßten sofort und so schnell wie möglich. Könnten wir nicht-ich kenn' den Gesamttext jetzt nicht-können wir das nicht vermeiden oder umschreiben?

Vors. Egon Krenz:
Ja, man muß schreiben: »Entsprechend der gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer folgende Übergangsregelung« und einfach »zeitweilig« streichen dann. Übergangsregelung ist ja eine zeitweilige.

Fritz Dickel:
Bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes.

Vors. Egon Krenz:
Also bis zum Inkcafttreten des Reisegesetzes geltende folgende Dinge, ja? (Unruhe) Einverstanden, ja? (Unruhe) Genosse Dickel, siehst Du da eine Schwierigkeit? Ist richtig so, ja? (Unruhe, Klingel des Vorsitzenden)

Fritz Dickel:
Was die Veröffentlichung angeht ...

Zuruf.' Lauter!

Was die Veröffentlichung angeht, vielleicht wäre doch zweckmäßig nicht das Ministerium des Innern, obwohl wir die praktische Durchführung machen, daß das Presseamt des Ministerrates das veröffentlicht. Denn das ist ja eine Verordnung des Vorsitzenden des Ministerrates.

Vors. Egon Krenz:
Ja, ich würde sagen, daß der Regierungssprecher das gleich macht, ja. [99]

(Unverständlicher Zuruf) Bitte?

Manfred Banaschak:
Ja besteht nicht überhaupt die Gefahr, wenn wir einen solchen Passus aufnehmen, »zeitweilig« ...

Zurufe: Lauter!

Wenn wir einen solchen Passus aufnehmen, der besagt »zeitweilig« oder »Übergangslösung«, könnte das nicht eher die Wirkung haben, daß man meint, wer weiß, was kommt ... (Unruhe)

Zuruf. - Das wurde gerade gesagt! (Unruhe, Weitere Zurufe)

Vors. Egon Krenz:
Deshalb wird gesagt, daß wir sowohl »zeitweilig« wie auch »Übergangsregelung« vermeiden und sagen: Bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes, das von der Volkskammer zu beschließen ist, wird das und das und das angeordnet. - Einverstanden, Genossen?

Zurufe: Ja!

Gut. Danke schön. Das Wort hat Günther Jahn.

[Egon Krenz leise, bei abgeschaltetem Saalmikrofon, nur zu seinem Nachbarn am Präsidiumstisch: Das ist doch immer gut, so was zu machen!)

   
interne Nummer 00001a

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Heinz Keßler; "Zur Sache und zur Person. Erinnerungen."
Berlin 1996.
Quellenabschnitt ebenda S. 303 ff.
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Gegen 15.30 Uhr - ein Diskussionsredner, der Generaldirektor des Werkzeugmaschinenbaukombinates in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Rudi Winter, war gerade fertig - unterbrach Egon Krenz wieder einmal die Diskussion und veränderte erneut die Tagesordnung. Nachdem das drei Tage zuvor in der Presse veröffentlichte Reisegesetz auf die heftige Kritik der Bevölkerung gestoßen war, war der Vorsitzende des Ministerrates Willi Stoph beauftragt worden, eine neue Reiseverordnung auszuarbeiten. Der Entwurf lag jetzt vor - Außenminister Oskar Fischer hatte ihn mit dem sowjetischen Botschafter Kotschemassow besprochen und ihn gebeten, ihn mit Moskau abzustimmen. Nun begründete ihn Egon Krenz vor dem Plenum, wobei er einleitend ausdrücklich sagte, daß diese Verordnung von so weitreichender Bedeutung sei, daß ein Politbürobeschluß allein nicht ausreiche und die Zustimmung des ZK unerläßlich sei. Er las den Text des geplanten Beschlusses vor und versuchte, ihn auch in seinen eigentlichen Zusammenhang zu stellen. Doch von den Teilnehmern der Plenartagung hatte niemand außer den Politbüromitgliedern die schriftliche Fassung in der Hand. So war es schwer, alle Details des Dokuments sofort zu erfassen, zumal der Text keineswegs leicht verständlich formuliert war. Von einer generellen Öffnung der Grenze war keine Rede. Ausgangspunkt waren die Beschwerden der tschechoslowakischen Regierung, die die Ausreisen von DDR Bürgern über die CSSR und alle damit verbundenen Komplikationen als eine schwere Belastung empfand, wie zuvor schon die ungarische Regierung auch. Bezeichnenderweise trug der Entwurf der Verordnung auch die Überschrift »Beschluß zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR«. Was in dieser Situation auch gemacht wurde - so sagte Krenz - konnte nur falsch sein: Schloß man die Grenze zur CSSR endgültig, bestrafte man die Mehrheit der DDR-Bürger, die dann nicht mehr ins befreundete sozialistische Ausland reisen konnten; schloß man die Grenze nicht, wären die Konflikte mit dem Nachbarland nicht zu beheben gewesen.
Die Verordnung enthielt drei Punkte, die ganz klar von dieser prekären Ausgangsposition bestimmt waren. Im ersten wurde festgelegt, daß die 1988 erlassenen Regelungen über das Reisen ins Ausland »bis zum Inkrafttreten eines neuen Reisegesetzes« außer Kraft gesetzt wurden. Im zweiten wurden, wie es hieß, »zeitweilige Übergangsregelungen« für Reisen und für die ständige Ausreise ins Ausland festgelegt: a) daß Privatreisen ohne das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen wie Verwandtschaftsverhältnisse oder bestimmte Reiseanlässe beantragt werden konnten und Genehmigungen kurzfristig erteilt werden sollten; B ) daß die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der Volkspolizeidirektionen in den Kreisen angewiesen seien, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich und ohne die noch geltenden Voraussetzungen zu erteilen; c) daß die ständigen Ausreisen über alle Grenzübergangsstellen zur BRD, bzw. zu Westberlin erfolgen konnten und damit d) die vorübergehend erteilten Genehmigungen der Ausreise über Drittstaaten (also Ungarn oder die CSSR) entfielen.
Und im dritten Punkt - dieser sollte sich bald als besonders wichtig und brisant erweisen - wurde festgelegt: »Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemeldung am 10. November zu veröffentlichen«. Diese Pressemitteilung enthielt außer einem Einleitungssatz nur die eben erwähnten Punkte, weshalb Egon Krenz sie auch nicht noch ein zweites Mal vorlas.
Natürlich hatte diese Verordnung das Ziel, die Reisebeschränkungen zu beseitigen und Reisen ins Ausland für alle zu ermöglichen, aber sie wollte es auf keinen Fall ungeregelt. Deswegen die genaue Kennzeichnung, worin die Erleichterungen im Genehmigungswesen und in der Visaerteilung bestehen sollten. Deswegen auch vor allem die Festlegung, daß diese Verordnung erst am nächsten Morgen, am 10. November, veröffentlicht werden sollte, weil ja in der Nacht noch alle beteiligten und verantwortlich gemachten Behörden genau informiert und neue Grenzübergangsstellen eröffnet werden konnten. Schalck Golodkowski war bereits beauftragt, mit Dienststellen der BRD und Westberlins die detaillierten Absprachen zu führen. Auch ich hatte für den Abend die Mitglieder des Kollegiums und andere leitende Offiziere des Ministeriums nach Strausberg bestellt, um die Auswertung des Plenums vorzunehmen.
Die Diskussion zu diesem Vorschlag war kurz, trotzdem wirr und unübersichtlich, aber außerordentlich folgenschwer. Es wurde nicht mehr über das »Ob« eines solchen Beschlusses diskutiert, nicht über seine Nützlichkeit und seine möglichen Gefahren und Folgen, auch nicht mehr über die Fragen der Finanzierbarkeit, die sich bei einer solchen Ausweitung des Besucherverkehrs zwangsläufig stellen mußten. Die Frage, die mehrmals gestellt wurde und im Mittelpunkt stand, war an ein Wort aus dem vorgelesenen Text geknüpft: ob das Wort »zeitweilig« sinnvoll sei. Es wurde zu bedenken gegeben, daß dieses »zeitweilig« so mißdeutet werden könne, daß man die Regelung bald wieder zurücknehmen wolle. Das könne weiteren Druck auslösen, weil viele Menschen im Lande, wie sie jetzt gestimmt seien, keine Zeit mehr verlieren wollten.
Nachdem der Wortwechsel dazu beendet war, faßte Egon Krenz zusammen: »Ich würde vorschlagen, daß das der Regierungssprecher macht. Wir vermeiden also sowohl >zeitweilig< als auch >Übergangsregelung< und sagen: bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes, das von der Volkskammer zu beschließen ist, wird das und das angeordnet. Einverstanden? - Danke schön!«
Auf diese hastige, unübersichtliche Weise nahm das ZK die nun wirklich historisch gewordene Entscheidung an, ohne daß die Mehrheit seiner Mitglieder den genauen Inhalt, die wirkliche Be deutung und alle möglichen Konsequenzen erfassen konnte. Dann erhielt der nächste Redner das Wort, der Potsdamer Bezirkssekretär Günter Jahn. Es ging jetzt wieder um Aktionsprogramm und Zahlungsbilanz - von der Grenzverordnung wurde nicht mehr gesprochen.
Den Hinweis auf den »Regierungssprecher« hatte Krenz nach einem kurzen Wortwechsel mit dem amtierenden Innenminister Dickel gegeben. Ursprünglich sollte die Verordnung von der Pressestelle des für das Paß- und Meldewesen zuständigen Innenministeriums veröffentlicht werden, doch Dickel meinte, die Bedeutung des Beschlusses ginge weit über die Vollmacht seines Ressorts hinaus - er solle vom Presseamt des Vorsitzenden des Ministerrates herausgegeben werden. So konnte es geschehen, daß - etwa eine Stunde später - Egon Krenz nur noch mitteilte, daß nun Günter Schabowski und drei weitere Genossen zur internationalen Pressekonferenz aufbrechen müßten, um dort über den zweiten Tag des Plenums zu berichten. Auch bei dieser kurzen Ankündigung war von der verabschiedeten Ausreiseregelung nicht die Rede. Krenz forderte Schabowski lediglich auf, den ebenfalls gefaßten Beschluß zur Einberufung der 4. Parteikonferenz vom 15. bis zum 17. Dezember zu erläutern und nötigenfalls auch zu verteidigen, da sich inzwischen Telegramme, Fernschreiben und Anrufe häuften, die einen Sonderparteitag mit allen Beschlußvollmachten und der Möglichkeit, die gesamte Parteiführung neu zu wählen, forderten. Ich sah noch, daß Krenz den Text der Reiseverordnung - gewissermaßen für alle Fälle - Schabowski beim Weggehen in die Hand drückte. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob Schabowski während der Entscheidung über ihre Endfassung im Saal anwesend war oder nicht.
So kam es, daß am frühen Abend nicht der Pressechef des Innenministeriums, nicht der Regierungssprecher, sondern ein Mitglied des Politbüros vor den laufenden Kameras vieler Stationen (live im Fernsehen der DDR) den Beschluß vortrug, der inzwischen Geschichte geworden ist - ohne seinen endgültigen Wortlaut exakt zu kennen, so daß er, auf die dringenden Fragen der Journalisten hin, mehrmals das Papier mit den wenigen Zahlen befragen mußte und mit den offenbar erstaunt gemurmelten, aber doch verständlichen Worten: »Dann haben sie das also doch geändert,« auf die Frage nach dem Zeitpunkt mit »Sofort!« und nach den Übergangsstellen mit »An allen Übergangsstellen - zu Westberlin und zur BRD« antwortete.

   
interne Nummer 00002b

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Egon Krenz; "Wenn Mauern fallen." Urschrift
von einem Mitglied des NVA-Forums (Sven_10) zur Verfügung gestellt.
Quellenabschnitt  
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Noch – Regierungschef Stoph übergab mir kurz vor Beginn der Sitzung den überarbeiteten Entwurf der Reiseverordnung (die Änderungsvorschläge hatte Wolfgang Herger in einer Sitzungspause telefonisch mit Stoph besprochen.). Das Exemplar, das Stoph mir übergab, war identisch mit der Umlaufvorlage, die den Mitgliedern des Ministerrates zur Bestätigung übergeben worden war.
Ich eröffnete die Nachmittagssitzung. Während Rudolf Winter, Kombinatsdirektor aus Karl-Marx-Stadt seinen Diskussionsbeitrag hielt, las ich die Verordnung noch einmal Satz für Satz durch. Mir war klar, wir luden uns einen Rucksack komplizierter politischer und wirtschaftlicher Probleme auf den Rücken. In diesen Tagen barg jede Entscheidung auch die Gefahr von Fehlern in sich. Die Reiseentscheidung war mit vielen politischen Risiken verbunden, das war mir wohl bewußt. Wenn wir zu ihr jedoch nicht fähig würden, würde die Politik der Erneuerung scheitern. Bei der Regierung und im Zentralkomitee waren inzwischen (innerhalb von nur 3 Tagen) über 16 000 Briefe zum Entwurf des Reisegesetzes eingegangen. Es wurde nun endlich Zeit, das Reiseproblem im Interesse der Bürger zu regeln, ohne weiteren Druck aus Bonn. Ich wollte eine souveräne Entscheidung der DDR und keine von Kohl erzwungene. International würden wir damit auch voll auf dem Boden der Helsinki - Schlußakte stehen. Wegen der weltpolitischen Wirkung unserer Reiseregelung wollte ich das ZK über den Beschluß nicht nur informieren. Ich wollte es in die Entscheidung einbeziehen. Deshalb stand ich nach dem Diskussionsbeitrag von Winter (gegen 16 00 Uhr) auf, richtete das Mikrofon so, daß mich jeder verstehen konnte und sagte langsam, damit die Bedeutung jedes Satz aufgenommen werden konnte :
” ... ich (muß) noch einmal von der Tagesordnung abweichen. Euch ist ja bekannt, daß es ein Problem gibt, das uns alle belastet: die Fragen der Ausreisen. Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie früher auch die ungarischen. Und: Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt. Schließen wir die Grenzen zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können... Selbst das würde aber nicht dazu führen, daß wir das Problem in die Hand bekommen; denn die Ständige Vertretung der BRD hat schon mitgeteilt, daß sie ihre ”Renovierungsarbeiten” abgeschlossen hat. Das heißt, sie wird öffnen, und wir würden auch dann wieder vor diesem Problem stehen.
Der Genosse Stoph hat als amtierender Vorsitzender des Ministerrates eine Verordnung vorgeschlagen, die ich jetzt verlesen möchte, weil sie zwar vom Politbüro bestätigt worden ist, aber doch solche Wirkung hat, daß ich das Zentralkomitee nicht ohne Konsultation lassen möchte:

"Beschluß zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR

Es wird festgelegt:

1. Die Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland findet bis zur Inkraftsetzung des neuen Reisegesetzes keine Anwendung mehr.
2. Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen (Hervorhebungen von E. Krenz) aus der DDR in das Ausland in Kraft: (es folgen die Regelungen der Verordnung) .
3. Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November(dieses Datum sollte eine besondere Bedeutung erhalten, E. K.) zu veröffentlichen.”

Ferner verlas ich den Entwurf einer beigefügten Pressemitteilung, die am 10. November veröffentlicht werden sollte (ohne die vier Verordnungspunkte, die ich bereits verlesen hatte).
Nachdem ich alles verlesen hatte, sagte ich weiter: ”Ich sagte: wie wir es machen, machen wir es verkehrt. Aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist.
Sofort meldete sich der Kulturminister. Ich gab ihm das Wort. Er sagte:
”Könnten wir nicht das Wort ”zeitweilig” streichen? Das erzeugt ständig den Druck, als hätten die Leute keine Zeit und müßten sofort und unverzüglich den Antrag stellen. Können wir das nicht vermeiden oder umschreiben?”
Darauf ich:
”Da muß man schreiben: <Bis zur gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer folgende Übergangsregelung< und >zeitweilig< streichen. Übergangsregelung ist ja eine zeitweilige. Oder wir schreiben: >Bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes gelten folgende Regelungen<. Ich wandte mich an den Innenminister und fragte: ”Genosse Dickel, siehst Du da Schwierigkeiten?”
Dickel: ”Nein. Was die Veröffentlichung angeht – vielleicht wäre es zweckmäßig, daß nicht das Ministerium des Innern, obwohl wir die praktische Durchführung machen, sondern das Presseamt des Ministerrates das veröffentlicht, denn es ist ja eine Mitteilung des Vorsitzenden des Ministerrates.”
Ich: ”Ich würde vorschlagen, daß das der Regierungssprecher gleich macht. Wir vermeiden also sowohl zeitweilig als auch Übergangsregelung und sagen: bis zum Inkrafttreten des Reisegesetzes, das von der Volkskammer zu beschließen ist, wird das und das angeordnet.- Einverstanden? – Danke schön.” Das eine so wichtige Frage so schnell abgeschlossen wurde, ist dem Umstand zu danken, daß alle ZK- Mitglieder sich darüber im klaren waren, es muß einmal Schluß sein mit der Debatte. Wir brauchen die Reisefreiheit. Anders werden wir unsere Probleme nicht lösen. Was sich dann tatsächlich am Abend und in der Nacht zum 10. November abgespielt hat, war zu dieser Stunde von keinem vorhersehbar.
   
interne Nummer 00003c

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Günter Schabowski; "Der Absturz."
Berlin 1991
Quellenabschnitt S. 305
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Am Nachmittag des 9. November informierte Krenz das Zentralkomitee auf seiner ro. Tagung von der neuen Reiseregelung, die eben die Regierung passiert habe. Wie mir Teilnehmer später erzählten, hatte er das nicht sonderlich akzentuiert getan. Bei einer Reihe von ZK-Mitgliedern mochte der Eindruck entstanden sein, daß die Regelung nur dazu diene, Aussiedler über die Grenzpunkte der DDR in die Bundesrepublik zu entlassen. Über unsere Grundintention, die volle Herstellung der Reisefreiheit, soll er sich nicht geäußert haben. Möglicherweise hatte er die von uns als konservativ eingeschätzte Mehrheit des Zentralkomitees nicht zu Einwänden provozieren wollen. Als Krenz seine Mitteilung machte, befand ich mich nicht im Tagungssaal. Ich war bei den Journalisten, die nicht direkt aus der Tagung berichten konnten - so weit war unsere Offenheit noch nicht gediehen - und Fragen an mich, Interviewwünsche und ähnliche professionelle Bedürfnisse hatten.

   
interne Nummer 00004a