Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/B
Quellenart Überrest
Quellennachweis BArch/P, C-20,113-2867
Quellenabschnitt Bl. 52
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MINISTERRAT
DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK MINISTERIUM DER JUSTIZ
DER MINISTER

Sekretariat des Ministerrates Genossen Sauer [45] Klosterstraße 47
Berlin 1020

9. November 1989

Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR


Werter Genosse Sauer!
Dem Beschlußvorschlag zu einer zeitweiligen Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR wird aus folgenden Gründen nicht zugestimmt:

1. Der Beschluß sieht entgegen der Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland keine Beschwerdemöglichkeit bei Versagen von Genehmigungen vor. Auch die gerichtliche Nachprüfung ablehnender Entscheidungen, die in der Verordnung vom 30. November 1988 als rechtsstaatliche Errungenschaft angesehen wurde, ist im Beschlußvorschlag nicht enthalten.
2. In Ziffer 2 a) wird festgelegt, daß die Genehmigungen kurzfristig erteilt werden. Eine konkrete Frist ist nicht vorgesehen. Der Begriff "kurzfristig" ist äußerst auslegungsfähig. Die Bürger werden annehmen, daß die bisherigen Fristen von 30 Tagen gemeint sind.
3. Ebenfalls in Ziffer 2 a) wird festgelegt, daß Versagungsgründe nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt werden. Es ist nicht definiert, was Versagungsgründe sind. Die Bürger werden annehmen, daß die im § 6 des Entwurfs des Reisegesetzes festgelegten umfassenden Versagungsgründe, die in der öffentlichen Diskussion auf absolute Ablehnung gestoßen sind, in diese Übergangslösung hinein interpretiert werden.
4. In Ziffer 1 wird dargelegt, daß die Verordnung vom 30. November 1988 keine Anwendung mehr findet. Eine solche Festlegung ist juristisch nicht möglich. Die Verordnung vom 30. November 1988 muß aufgehoben werden.

Die Nichtzustimmung bezieht sich auch auf die in der Anlage enthaltene Pressemitteilung.

Mit sozialistischem Gruß LV. (Unterschrift)

Dr. Wittenbeck [46]

[44] Das Dokument trägt als Eingangsstempel den 16. November 1989, lag aber nach Aussage von Siegfried Wittenbeck, Harry Möbis, Klaus Mehnert, Wolfgang Petter und Gerhard Lauter bereits am 9.11.1989 im Sekretariat des Ministerrats vor. Handschriftlich ist vermerkt: "Genosse Mehnert zum Vorgang. 16.11. Sauer", und: "Gen. Petter. S. Ziffer 4 nochmals prüfen. Mehnert. (ohne Datum)."
[45] Manfred Sauer, Stellvertreter des Leiters des Sekretariats des Ministerrates.
   
interne Nummer 00019

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/16/B
Quellenart Tradition
Quellennachweis Hans-Hermann Hertle; "Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates."; Opladen 1996; ISBN – 3-531-12927-9
Quellenabschnitt ebenda S. 333 ff.
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Gespräch Hans-Hermann Hertle mit Gerhard Lauter

Berlin, 24.2.1992
[Gerhard Lauter war im November 1989 Leiter der Hauptabteilung Pass – und Meldewesen im Ministerium des Innern und beauftragt am Morgen des 9. November die Vorlage für die neue Reiseregelung auszuarbeiten.]

Hertle: Noch einmal zurück.- Die Vorlage kam am 9. November in der Mittagspause der ZK-Sitzung ins Politbüro, zusammen mit einer vorformulierten Presseerklärung. Die hatten Sie bzw. der Vierer-Kreis auch mitverfaßt?
Lauter: Ja. Aber eben mit dem Hinweis, das war dem Politbüro klar, daß eine Verordnung des Ministerrates erlassen werden muß. Es gab da folgende Regelung: Es konnten in Dringlichkeitsfällen - oder in Fällen nicht so großer Wichtigkeit, aber hier war es dringlich - nach der Geschäftsordnung des Ministerrates Umlaufvorlagen gemacht werden. Da alle Ministerien in Berlin saßen, war das kein großes Problem. Da gab es eingespielte Systeme, daß allen Mitgliedern des Ministerrates eine bestimmte Vorlage vorgelegt wird mit dem Hinweis, daß sie, wenn bis zu einem vorgegebenen Zeitpunkt kein Widerspruch eines Ministeriums vorliegt, als akzeptiert gilt. Und das war mit dieser Vorlage, die wir auftragsgemäß parallel dazu an den Ministerrat weitergeleitet hatten, so. Die hatte ich sogar selbst noch zum Leiter des Sekretariats des Vorsitzenden des Ministerrates gebracht, und der hat das dann gestreut, da gab es eingespielte Kurierwege, das kann ich jetzt im Detail nicht nachvollziehen. Bis 18.00 Uhr sollten die Minister zustimmen. Wir hatten noch nach 17.00 vom Minister der Justiz, Herrn Heusinger, einen Einspruch gegen einen Halbsatz, den er anders formuliert haben wollte, was aber an der Sache nichts geändert hätte. Das war für uns ein politisches Signal, daß die Sache noch nicht im Politbüro beschlossen war, dann hätte sich Heusinger nämlich auch nicht getraut, da noch was ändern zu wollen. Wir haben dann noch an diesem Einspruch gearbeitet...
  [...]
Hertle: Was haben Sie mit dem Heusinger-Einspruch gemacht? Liegengelassen?
Lauter: Nein, wir konnten die Kollegen vom Justizministerium vom Sinn unserer Formulierung überzeugen.
   
interne Nummer 00006e