Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/18/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Hans-Hermann Hertle; "Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates."; Opladen 1996; ISBN – 3-531-12927-9
Quellenabschnitt ebenda S. 170
   
 
Frage: Ich heiße Riccardo Ehrman, ich vertrete die italienische Nachrichtenagentur ANSA. Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, daß es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?
Schabowski: Nein, das glaube ich nicht. Wir wissen um diese Tendenz in der Bevölkerung, um dieses Bedürfnis der Bevölkerung, zu reisen oder die DDR zu verlassen. Und (äh) wir haben die Überlegung, daß wir alle die Dinge, die ich hier vorhin beantwortet habe oder zu beantworten versucht habe auf die Frage des TASS-Korrespondenten, nämlich eine komplexe Erneuerung der Gesellschaft (äh) zu bewirken und dadurch letztlich durch viele dieser Elemente (äh) zu erreichen, daß Menschen sich nicht genötigt sehen, in dieser Weise ihre persönlichen Probleme zu bewältigen.
Das sind aber, wie gesagt, viele Schritte, und (äh) man kann sie nicht alle zur gleichen Zeit einleiten. Es gibt eine Abfolge von Schritten, und die Chance, also durch Erweiterung von Reisemöglichkeiten, die Chance also, durch die Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise, die Menschen aus einer (äh), sagen wir mal psychologischen Drucksituation zu befreien, - viele dieser Schritte sind ja im Grunde unüberlegt erfolgt. Das wissen wir, ja, durch Gespräche, durch Bedürfnisse, jetzt wieder zurückzukommen (äh), durch Gespräche mit Menschen, die sich in der BRD jetzt in einer ungemein komplizierten Lage befinden, weil die BRD große Schwierigkeiten hat, diese Flüchtlinge unterzubringen. Also, die Aufnahmekapazität der BRD ist im Grunde erschöpft. Es sind schon mehr als, oder weniger als Provisorien (äh), mit denen diese Menschen zu rechnen haben, wenn sie dort untergebracht werden. (Äh) Die Unterbringung ist aber das Geringste für den Aufbau einer Existenz. Entscheidend, wesentlich ist das Finden von Arbeit, ja, und die notwendige Integration in diese Gesellschaft, die weder dann gegeben ist, wenn man in einem Zelt haust oder in einer Notunterkunft oder als Arbeitsloser dort 'rumhängt.
Also, wir wollen durch eine Reihe von Umständen, dazu gehört auch das Reisegesetz, die Chance also der souveränen Entscheidung des Bürgers zu reisen, wohin er will. (Äh) Wir sind natürlich (äh) besorgt, daß also die Möglichkeit dieses Reisegesetzes, - es ist ja immer noch nicht in Kraft, es ist ja ein Entwurf.
Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten zustimmungserheischend in Richtung Labs und Banaschak), eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten läßt, der stän... - wie man so schön sagt oder so unschön sagt - die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, daß sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.
Frage: (..Stimmengewirr...) Ab wann tritt das in Kraft?
Schabowski: (Kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille auf), daß eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet worden ist. Sie müßte eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also (liest sehr schnell vom Blatt): "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß- und Meldewesen der VPKÄ - der Volkspolizeikreisämter - in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. (Äh) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD [23] erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten." (Blickt auf.) (Äh) Die Paßfrage kann ich jetzt nicht beantworten (blickt fragend in Richtung Labs und Banaschak). Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, ... also damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber ...
Banaschak: (Fällt Schabowski unverständlich ins Wort).
Frage: Wann tritt das in Kraft?
Schabowski: (Blättert in seinen Papieren.) Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen).
Frage: (.. Stimmengewirr ...) Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?
Schabowski: (Liest schnell vor, dabei einige Worte verschluckend:) "Wie die Presseabteilung des Ministeriums ..., hat der Ministerrat beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen
Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird."
Frage: Gilt das auch für Berlin-West?
Schabowski: (Zuckt mit den Schultern, verzieht dazu die Mundwinkel nach unten, schaut in seine Papiere.) Also (Pause), doch, doch (liest vor): "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen."
Frage: (.. Stimmengewirr ...) Heißt das, daß ab sofort die DDR-Bürger... (Journalist stellt sich vor, phonetisch:) Christoph Janowski. (Zeitung bzw. Agentur nicht verständlich, d.Vf.) ... heißt das, daß ab sofort die DDR-Bürger durch die Tschechoslowakei oder Polen nicht ausreisen dürfen?
Schabowski: Ja, das ist darin überhaupt nicht formuliert. Sondern wir hoffen, daß sich auf diese Weise (äh) diese Bewegung selbst reguliert In dem Sinne, wie wir das erstreben.
Frage: (Stimmengewirr, unverständliche Frage).
Schabowski: Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.
Frage: (Stimmengewirr, unverständliche Frage).
Schabowski: Ich habe nichts Gegenteiliges gehört.
Frage: (Stimmengewirr, unverständliche Frage).
Schabowski: Ja, ich habe nichts Gegenteiliges gehört. Ich drücke mich nur so vorsichtig aus, weil ich nun in dieser Frage nicht, also, ständig auf dem Laufenden bin, sondern kurz, bevor ich 'rüber kam, diese Information in die Hand gedrückt bekam.
(Einige Journalisten verlassen eilig den Raum.)
Frage: Herr Schabowski, was wird mit dem Berliner Mauer jetzt geschehen?
Schabowski: Ich werde darauf aufmerksam gemacht, daß es 19.00 Uhr ist. Es ist die letzte Frage, ja! Haben Sie Verständnis dafür.
(Äh) Was wird mit der Berliner Mauer? Es sind dazu schon Auskünfte gegeben worden im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit. (Äh) Die Frage des Reisens, (äh) die Durchlässigkeit also der Mauer von unserer Seite, beantwortet noch nicht und ausschließlich die Frage nach dem Sinn, also dieser, ich sag' s mal so, befestigten Staatsgrenze der DDR. (Äh) Wir haben immer gesagt, daß dafür noch einige andere Faktoren (äh) mit in Betracht gezogen werden müssen. Und die betreffen den Komplex von Fragen, den Genosse Krenz in seinem Referat in der - in Hinsicht auf die Beziehungen zwischen der DDR und BRD geäußert hat, in Hinsicht auf (äh) die Notwendigkeit, den Friedenssicherungsprozeß mit neuen Initiativen fortzusetzen. Und (äh) sicherlich wird die Debatte über diese Frage (äh) positiv beeinflußt werden können, wenn sich auch die BRD und wenn sich die NATO zu Abrüstungschritten entschließt und sie durchsetzt, so oder ähnlich wie die DDR das und andere sozialistische Staaten schon mit bestimmten Vorleistungen getan haben.
Herzlichen Dank!"

(Ende der Pressekonferenz: 19:00:54 Uhr.)
   
interne Nummer 00006c

Faksimile Schabowskis Konzept für die Pressekonferenz
   
 
   

Datum 09. November 1989
Ereignis  
Quellenart Tradition
Quellennachweis Günter Schabowski; "Der Absturz."
Berlin 1991
Quellenabschnitt S. 307 ff
Faksimile 89/11/09/18/A
   
 

In Kenntnis unserer Absichten und im Besitze des Regierungspapiers fuhr ich zu dem Briefing. Ich betone das, weil viele, die damals die Fernsehberichte sahen, noch heute sicher sind, mir sei die Reiseinformation erst während der Pressekonferenz zugespielt worden. In der Tat bin ich erst gegen Schluß des FrageAntwort-Spiels auf das Grenzthema zu sprechen gekommen. An einer beiläufigen Optik war mir aus zwei Gründen gelegen. Zum einen sollte durch mich als SED-Sprecher nicht der Eindruck des alten Machtmusters erweckt werden. Es war eine Regierungsentscheidung und kein Beschluß des Politbüros. Ich hatte sie gewissermaßen nebenberuflich mitzuteilen. Zum anderen sollte die Information nicht den eigentlichen Gegenstand der Pressekonferenz, die ZK-Tagung, in den Hintergrund spielen.
Beim Verlesen des Textes der Regelung stutze ich nur bei der Stelle über den Gültigkeitsbereich. West-Berlin war erwähnt. Mir schoß die Frage durch den Kopf, ob denn das mit der sowjetischen Seite abgesprochen worden sei. Alle Materie, die mit West-Berlin zusammenhängt, lag nicht in unserer, sondern in der Zuständigkeit der vier Mächte. Auf die nachsetzende Frage eines Journalisten bestätigte ich anhand des Textes, daß auch die Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) für die Ausreise benutzt werden können.
Andere Journalisten wollten wissen, wann die Regelung in Kraft trete. Ich vergewisserte mich noch einmal am Wortlaut. «Ab sofort», lautete meine Auskunft. Ausdrücklich hatte ich vermerkt, daß es sich um Privatreisen und um ständige Ausreisen handele. Das war ja nach meiner Vorstellung und allen bisherigen Absprachen der Geist der Abmachung.
« Aber es hat Ihnen doch jemand einen Zettel zugesteckt? » bin ich seither hartnäckig immer wieder gefragt worden. Ich muß das ebenso entschieden verneinen. Die «Wahrnehmung» rührt vermutlich daher, daß ich den Regierungsbeschluß unter meine Notizen über die ZK-Tagung geschoben hatte. Beim Themenwechsel suchte ich einen Augenblick nach dem Papier, das mir Kreuz gegeben hatte. Ich zog es schließlich aus meiner Zettelsammlung hervor. Dabei ist wohl der halluzinatorische Effekt entstanden.
In seinem Buch schreibt Krenz, mir sei bei der Verkündung des Termins für die Öffnung der Passierstellen an der Grenze aus Unachtsamkeit ein « kleiner Fehler» unterlaufen. Die Regelung sollte tatsächlich am nächsten Morgen gegen vier Uhr in Kraft treten. Aber davon war in dem Papier keine Rede. Krenz hatte mir den Beschluß ausgehändigt, damit er unverzüglich der Weltpresse mitgeteilt wird. Ich konnte mich nur an den Text halten, in dem es heißt « ab sofort ... »
Krenz hatte mir nichts von einem zeitlichen Sperrvermerk für die Presse gesagt. Das wäre auch widersinnig gewesen. Schließlich kann man nicht Hunderte news-hungrige Vertreter der Weltpresse eine solche Jahrhundertmeldung schmecken lassen und ihnen dann sagen: « Aber runterschlucken dürfen Sie es erst in neun Stunden, meine Damen und Herren.» Dieser Meinung. konnte nur sein, wer noch in Vorstellungen von einer aus- und einknipsbaren Befehlspresse befangen war.
Termin, Einbeziehung West-Berlins und das Erfassen von Auswanderung wie von Privatreisen in dem Regierungsbeschluß verknoteten sich zum Auslöser der unvergleichlichen Vorgänge, die sich in den späten Abend- und in den Nachtstunden vom 9. zum 10. Oktober [sic! gemeint ist wohl November] in Berlin ereignet haben. Allein in einem Ballungsterrain wie der Millionenstadt Berlin konnte sich in Windeseile eine derartige Massenbewegung entwickeln.

   
interne Nummer 00004c

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/18/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Egon Krenz; "Wenn Mauern fallen." Urschrift
von einem Mitglied des NVA-Forums (Sven_10) zur Verfügung gestellt.
Quellenabschnitt  
Faksimile  
   
 

Fritz Streletz arbeitete den Befehl Nr. 12/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates ”über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik” in meinem Vorzimmer aus. Dort, wo er bereits am 16. Oktober 1989 den Befehl zur Situation in Leipzig formuliert hatte. Der Führungsgruppe gehörten außer Streletz und dem Chef der Grenztruppen keine Mitglieder des Zentralkomitees an. Das hing damit zusammen, daß die 10. Tagung weiter ging. Zur operativen Führungsgruppe gehörten weiter: ein Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, ein Stellvertreter des Innenministeriums, der zugleich Chef des Stabes der Volkspolizei war, ein Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, der Leiter der Abteilung für Parteiorgane des Zentralkomitees, der Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat der DDR. Alexander Schalck war nicht Mitglied des Gruppe, weil er seine Aufträge direkt von mir erhielt. Er arbeitete mit der Führungsgruppe jedoch eng zusammen. Die Aufgabe der Führungsgruppe, die ihrem Wesen nach eine Arbeitsgruppe war, bestand darin, Informationen über die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR zu sammeln und zu analysieren, ununterbrochen die Lage des Gegners im Westen einzuschätzen sowie Schlußfolgerungen bzw. Vorschläge für gesamtstaatliche Führungsentscheidungen vorzubereiten. Die Arbeitsgruppe tagte in meinem Arbeitszimmer im Zentralkomitee. Sie meldete mir täglich bis 9 00 Uhr die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR. Über schwerwiegenden besondere Vorkommnisse mußte ich sofort informiert werden. Kurz vor 8 00 Uhr legte Streletz mir den Befehl zur Unterschrift vor. Um 8 00 Uhr wies ich die Mitglieder der Gruppe in ihre Arbeit ein. Die operative Führungsgruppe hatte keine Befehlsgewalt. Sie hatte weder den Auftrag, militärische Maßnahmen für das Schließen der Grenze zu planen, noch über einen ”Ausnahmezustand” nachzudenken. Der war laut DDR - Verfassung nicht vorgesehen. Mit meinem Wissen oder durch Auftrag der mir unterstellten Minister für Verteidigung, für Staatssicherheit und Inneres sind zu keinem Zeitpunkt militärische oder andere Aktionen zur Schließung der Grenze unternommen worden. Im Gegenteil: alle Alarmierungen hatten nur ein Ziel: bereit zu sein, wenn die Grenztruppen der DDR bei der Erschließung neuer Übergänge Unterstützung bräuchten. Zum Einsatz der Armee gegen das eigene Volk hat es in meiner Amtszeit keinen Befehl gegeben. Es ist nach meiner Kenntnis unwahr, daß in der Operativen Führungsgruppe jemals die Frage erörtert wurden sei, ob die Grenzübergänge wieder geschlossen und der alte Zustand wieder hergestellt werden solle. Niemals wurde die Frage erörtert, ob dafür die Nationale Volksarmee eingesetzt werden könnte.

   
interne Nummer 00003e

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/18/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Günter Schabowski; "Der Absturz."
Berlin 1991
Quellenabschnitt S. 307 ff
Faksimile  
   
 

In Kenntnis unserer Absichten und im Besitze des Regierungspapiers fuhr ich zu dem Briefing. Ich betone das, weil viele, die damals die Fernsehberichte sahen, noch heute sicher sind, mir sei die Reiseinformation erst während der Pressekonferenz zugespielt worden. In der Tat bin ich erst gegen Schluß des FrageAntwort-Spiels auf das Grenzthema zu sprechen gekommen. An einer beiläufigen Optik war mir aus zwei Gründen gelegen. Zum einen sollte durch mich als SED-Sprecher nicht der Eindruck des alten Machtmusters erweckt werden. Es war eine Regierungsentscheidung und kein Beschluß des Politbüros. Ich hatte sie gewissermaßen nebenberuflich mitzuteilen. Zum anderen sollte die Information nicht den eigentlichen Gegenstand der Pressekonferenz, die ZK-Tagung, in den Hintergrund spielen.
Beim Verlesen des Textes der Regelung stutze ich nur bei der Stelle über den Gültigkeitsbereich. West-Berlin war erwähnt. Mir schoß die Frage durch den Kopf, ob denn das mit der sowjetischen Seite abgesprochen worden sei. Alle Materie, die mit West-Berlin zusammenhängt, lag nicht in unserer, sondern in der Zuständigkeit der vier Mächte. Auf die nachsetzende Frage eines Journalisten bestätigte ich anhand des Textes, daß auch die Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) für die Ausreise benutzt werden können.
Andere Journalisten wollten wissen, wann die Regelung in Kraft trete. Ich vergewisserte mich noch einmal am Wortlaut. «Ab sofort», lautete meine Auskunft. Ausdrücklich hatte ich vermerkt, daß es sich um Privatreisen und um ständige Ausreisen handele. Das war ja nach meiner Vorstellung und allen bisherigen Absprachen der Geist der Abmachung.
« Aber es hat Ihnen doch jemand einen Zettel zugesteckt? » bin ich seither hartnäckig immer wieder gefragt worden. Ich muß das ebenso entschieden verneinen. Die «Wahrnehmung» rührt vermutlich daher, daß ich den Regierungsbeschluß unter meine Notizen über die ZK-Tagung geschoben hatte. Beim Themenwechsel suchte ich einen Augenblick nach dem Papier, das mir Kreuz gegeben hatte. Ich zog es schließlich aus meiner Zettelsammlung hervor. Dabei ist wohl der halluzinatorische Effekt entstanden.
In seinem Buch schreibt Krenz, mir sei bei der Verkündung des Termins für die Öffnung der Passierstellen an der Grenze aus Unachtsamkeit ein « kleiner Fehler» unterlaufen. Die Regelung sollte tatsächlich am nächsten Morgen gegen vier Uhr in Kraft treten. Aber davon war in dem Papier keine Rede. Krenz hatte mir den Beschluß ausgehändigt, damit er unverzüglich der Weltpresse mitgeteilt wird. Ich konnte mich nur an den Text halten, in dem es heißt « ab sofort ... »
Krenz hatte mir nichts von einem zeitlichen Sperrvermerk für die Presse gesagt. Das wäre auch widersinnig gewesen. Schließlich kann man nicht Hunderte news-hungrige Vertreter der Weltpresse eine solche Jahrhundertmeldung schmecken lassen und ihnen dann sagen: « Aber runterschlucken dürfen Sie es erst in neun Stunden, meine Damen und Herren.» Dieser Meinung. konnte nur sein, wer noch in Vorstellungen von einer aus- und einknipsbaren Befehlspresse befangen war.
Termin, Einbeziehung West-Berlins und das Erfassen von Auswanderung wie von Privatreisen in dem Regierungsbeschluß verknoteten sich zum Auslöser der unvergleichlichen Vorgänge, die sich in den späten Abend- und in den Nachtstunden vom 9. zum 10. Oktober [sic! gemeint ist wohl November] in Berlin ereignet haben. Allein in einem Ballungsterrain wie der Millionenstadt Berlin konnte sich in Windeseile eine derartige Massenbewegung entwickeln.

   
interne Nummer 00004d

Datum 09. November 1989
Ereignis 89/11/09/18/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Interview mit Ricardo Ehrmann. Quelle: Website Deutsche Welle. Zugriff am 18.4.2006 http://www.dw-world.de/dw/article/0,2144,1388952,00.html veröffentlicht 09.11.2004
Quellenabschnitt  
Faksimile  
   
 
DW-WORLD: Herr Ehrman, am 9. November 1989 hatte Herr Schabowski auf der berühmten Pressekonferenz gesagt: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen."
Sie wollten sofort wissen, ab wann das gelte und Schabowski sagte etwas verwirrt: "Sofort, unverzüglich". Was ging in diesem Moment in Ihnen vor?
Ricardo Ehrman: Als er das gesagt hat, sind nur zwei Personen aus der Pressekonferenz gleich aufgesprungen und herausgelaufen. Ich und der damalige Presseleiter der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Ich erinnere mich genau. Wir beide haben uns angeschaut und uns gefragt: "Glaubst Du, dass das wahr ist?" Die Kollegen auf der Pressekonferenz haben nicht gleich verstanden, dass das den Fall der Mauer bedeutete. Das lag an der Politbüro-Sprache. Doch es war Gott sei Dank wahr.
DW-WORLD: Sie glauben, selbst nach der Pressekonferenz hatten die anderen Journalisten nicht realisiert, was eigentlich gemeint war?
Ricardo Ehrman: Ja, natürlich. Und [meine Nachrichtenagentur] ANSA hat eine gewisse Exklusivität genossen, da ich zwei Mal nachgefragt habe, ab wann das neue Gesetzt gelte. Viele Agenturen haben einfach nur von Reiseerleichterungen gesprochen. Aber für mich hieß das ganz klar: Die Mauer war weg. So habe ich es auch in meiner Meldung geschrieben: "Günther Schabowskis Verkündung des neuen Reisegesetzes ist das Äquivalent des Mauerfalls". Ostdeutsche Bürger sind frei, in den Westen zu gehen. Die Mauer ist gefallen.
Hatten Sie das Gefühl, dass Herr Schabowski in dem Moment realisiert hatte, was er da gesagt hat? Immerhin las er von einem Zettel ab, der erst für den nächsten Tag bestimmt war.
Schabowski hatte das neue Reisegesetz 24 Stunden zu früh verkündet. Bei einem kurzen Treffen später sagte er zu mir: "Herr Ehrman, Sie haben mich sehr nervös gemacht." Ich war ein bisschen aggressiv und fragte ihn, ob er nicht einen Fehler gemacht hat. Aber in dieser Zeit hat kein Politbürosprecher einen Fehler gemacht. Es waren schwierige Zeiten für ihn. Er war der Sprecher des Politbüros. Er war auch ein journalistischer Kollege. Er war ohne Zweifel eine intelligente Person.
DW-WORLD: Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Pressekonferenz verlassen hatten?
Ricardo Ehrman: Ich bin zuerst zum Telefon gerannt, um das Flash zu geben und dann zum Telexgerät. Dann bin ich vom Pressezentrum zu meinem Büro gegangen und habe die ganze Nacht gearbeitet.
DW-WORLD: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie aufgeschrieben haben, dass die Mauer gefallen ist?
Ricardo Ehrman: Ich dachte, in diesem Moment verändert sich die Welt. Und genau das habe ich geschrieben: "The world has changed. Today."
DW-WORLD: Und das war Ihnen schon in dem Moment bewusst, als Schabowski die Worte ausgesprochen hatte?
Ricardo Ehrman: Ich hatte erwartet, dass es nicht mehr lange so weitergehen konnte wie bisher. Von einem Moment auf den nächsten würde es passieren. Und das war der Moment. Der deutsche Historiker Hans-Hermann Hertle hat ein Buch über den Mauerfall geschrieben. Es enthält eine Widmung an mich, die lautet: Kurze Frage, große Wirkung.
DW-WORLD: Wie haben Ihre Kollegen in Italien reagiert?
Ricardo Ehrman: Die sind durchgedreht und haben es selbstverständlich nicht geglaubt. Mein Chefredakteur hat gesagt: Was ist mit Riccardo los, ist der verrückt geworden? Aber ich konnte ja meinen Redakteur erfolgreich davon überzeugen, dass dies den Tatsachen entsprach, dass sich die Welt in diesem Moment verändert hat.
DW-WORLD: Als ihre Meldung, dass die Mauer gefallen ist, veröffentlicht wurde, haben andere Medien nachgezogen und das Gleiche berichtet. Die Menschen sind in Scharen an die Grenzen geströmt. Was haben Sie gemacht?
Ricardo Ehrman: Zuerst bin ich zum Platz an der Gedächtniskirche gegangen, wo eine Menge Leute waren. Was viele junge Mädchen aus dem Osten dort mit großen Augen betrachtet haben, waren die Sexshops. Für sie hieß das Freiheit; dass man alles haben oder sehen kann. Ich bin dann zum Grenzübergang in die Leipziger Straße gegangen, um zu sehen was passiert ist. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass die Pressekonferenz live im Fernsehen übertragen worden war. Als ich dann an der Grenze ankam, hat mich jemand aus der Menschenmenge erkannt und gerufen: Das ist er. Und dann haben sie mich gefeiert und mich in die Luft hochgehoben. Ich fürchte, dass mich dieselben Leute heute wahrscheinlich schlagen würden.
DW-WORLD: Tatsächlich sehen viele die Wiedervereinigung heute mit anderen Augen: 12 Prozent der Ostdeutschen wünschen sich die Mauer zurück, sogar 24 Prozent aller Westdeutschen. Was ist schief gelaufen?
Ricardo Ehrman: Deutschland war über so viele Jahre in zwei Teile geteilt. Klar, dass das nicht gleich klappen konnte. Es war verständlich, dass die Leute im Osten alles wollten, was die Menschen im Westen hatten: dieselbe Arbeit, dieselben Löhne. Ich nehme an, man braucht noch ein bisschen Geduld. Ich wünsche mir für die Deutschen, dass es klappen wird.
   
interne Nummer 00017