Quellennachweis |
Hans-Hermann Hertle; "Der
Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates.";
Opladen 1996; ISBN – 3-531-12927-9 |
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Frage: |
Ich heiße Riccardo Ehrman, ich vertrete die italienische
Nachrichtenagentur ANSA. Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen.
Glauben Sie nicht, daß es war ein großer Fehler, diesen
Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen
Tagen? |
Schabowski: |
Nein, das glaube ich nicht. Wir wissen um diese Tendenz in der
Bevölkerung, um dieses Bedürfnis der Bevölkerung,
zu reisen oder die DDR zu verlassen. Und (äh) wir haben die
Überlegung, daß wir alle die Dinge, die ich hier vorhin
beantwortet habe oder zu beantworten versucht habe auf die Frage
des TASS-Korrespondenten, nämlich eine komplexe Erneuerung
der Gesellschaft (äh) zu bewirken und dadurch letztlich durch
viele dieser Elemente (äh) zu erreichen, daß Menschen
sich nicht genötigt sehen, in dieser Weise ihre persönlichen
Probleme zu bewältigen.
Das sind aber, wie gesagt, viele Schritte, und (äh) man kann
sie nicht alle zur gleichen Zeit einleiten. Es gibt eine Abfolge
von Schritten, und die Chance, also durch Erweiterung von Reisemöglichkeiten,
die Chance also, durch die Legalisierung und Vereinfachung der Ausreise,
die Menschen aus einer (äh), sagen wir mal psychologischen
Drucksituation zu befreien, - viele dieser Schritte sind ja im Grunde
unüberlegt erfolgt. Das wissen wir, ja, durch Gespräche,
durch Bedürfnisse, jetzt wieder zurückzukommen (äh),
durch Gespräche mit Menschen, die sich in der BRD jetzt in
einer ungemein komplizierten Lage befinden, weil die BRD große
Schwierigkeiten hat, diese Flüchtlinge unterzubringen. Also,
die Aufnahmekapazität der BRD ist im Grunde erschöpft.
Es sind schon mehr als, oder weniger als Provisorien (äh),
mit denen diese Menschen zu rechnen haben, wenn sie dort untergebracht
werden. (Äh) Die Unterbringung ist aber das Geringste für
den Aufbau einer Existenz. Entscheidend, wesentlich ist das Finden
von Arbeit, ja, und die notwendige Integration in diese Gesellschaft,
die weder dann gegeben ist, wenn man in einem Zelt haust oder in
einer Notunterkunft oder als Arbeitsloser dort 'rumhängt.
Also, wir wollen durch eine Reihe von Umständen, dazu gehört
auch das Reisegesetz, die Chance also der souveränen Entscheidung
des Bürgers zu reisen, wohin er will. (Äh) Wir sind natürlich
(äh) besorgt, daß also die Möglichkeit dieses Reisegesetzes,
- es ist ja immer noch nicht in Kraft, es ist ja ein Entwurf.
Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten
zustimmungserheischend in Richtung Labs und Banaschak), eine Entscheidung
getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen
worden, daß man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus
herausnimmt und in Kraft treten läßt, der stän...
- wie man so schön sagt oder so unschön sagt - die ständige
Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh)
für einen unmöglichen Zustand halten, daß sich diese
Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat
(äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach
ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute
(äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der
DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte
der DDR (äh) auszureisen. |
Frage: |
(..Stimmengewirr...) Ab wann tritt das in Kraft? |
Schabowski: |
(Kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt
worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille
auf), daß eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet
worden ist. Sie müßte eigentlich in Ihrem Besitz sein.
Also (liest sehr schnell vom Blatt): "Privatreisen nach dem
Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe
und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen
werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Paß-
und Meldewesen der VPKÄ - der Volkspolizeikreisämter -
in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich
zu erteilen, ohne daß dabei noch geltende Voraussetzungen
für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. (Äh)
Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen
der DDR zur BRD [23] erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend
ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen
der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis
der DDR über Drittstaaten." (Blickt auf.) (Äh) Die
Paßfrage kann ich jetzt nicht beantworten (blickt fragend
in Richtung Labs und Banaschak). Das ist auch eine technische Frage.
Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, ... also
damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal
ausgegeben werden. Wir wollten aber ... |
Banaschak: |
(Fällt Schabowski unverständlich ins Wort). |
Frage: |
Wann tritt das in Kraft? |
Schabowski: |
(Blättert in seinen Papieren.) Das tritt nach meiner Kenntnis
... ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen
Unterlagen). |
Frage: |
(.. Stimmengewirr ...) Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch
für West-Berlin? |
Schabowski: |
(Liest schnell vor, dabei einige Worte verschluckend:) "Wie
die Presseabteilung des Ministeriums ..., hat der Ministerrat beschlossen,
daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen
Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft
gesetzt wird." |
Frage: |
Gilt das auch für Berlin-West? |
Schabowski: |
(Zuckt mit den Schultern, verzieht dazu die Mundwinkel nach unten,
schaut in seine Papiere.) Also (Pause), doch, doch (liest vor):
"Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen
der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen." |
Frage: |
(.. Stimmengewirr ...) Heißt das, daß ab sofort die
DDR-Bürger... (Journalist stellt sich vor, phonetisch:) Christoph
Janowski. (Zeitung bzw. Agentur nicht verständlich, d.Vf.)
... heißt das, daß ab sofort die DDR-Bürger durch
die Tschechoslowakei oder Polen nicht ausreisen dürfen? |
Schabowski: |
Ja, das ist darin überhaupt nicht formuliert. Sondern wir
hoffen, daß sich auf diese Weise (äh) diese Bewegung
selbst reguliert In dem Sinne, wie wir das erstreben. |
Frage: |
(Stimmengewirr, unverständliche Frage). |
Schabowski: |
Ich habe nichts Gegenteiliges gehört. |
Frage: |
(Stimmengewirr, unverständliche Frage). |
Schabowski: |
Ich habe nichts Gegenteiliges gehört. |
Frage: |
(Stimmengewirr, unverständliche Frage). |
Schabowski: |
Ja, ich habe nichts Gegenteiliges gehört. Ich drücke
mich nur so vorsichtig aus, weil ich nun in dieser Frage nicht,
also, ständig auf dem Laufenden bin, sondern kurz, bevor ich
'rüber kam, diese Information in die Hand gedrückt bekam.
(Einige Journalisten verlassen eilig den Raum.) |
Frage: |
Herr Schabowski, was wird mit dem Berliner Mauer jetzt geschehen? |
Schabowski: |
Ich werde darauf aufmerksam gemacht, daß es 19.00 Uhr ist.
Es ist die letzte Frage, ja! Haben Sie Verständnis dafür.
(Äh) Was wird mit der Berliner Mauer? Es sind dazu schon Auskünfte
gegeben worden im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit. (Äh)
Die Frage des Reisens, (äh) die Durchlässigkeit also der
Mauer von unserer Seite, beantwortet noch nicht und ausschließlich
die Frage nach dem Sinn, also dieser, ich sag' s mal so, befestigten
Staatsgrenze der DDR. (Äh) Wir haben immer gesagt, daß
dafür noch einige andere Faktoren (äh) mit in Betracht
gezogen werden müssen. Und die betreffen den Komplex von Fragen,
den Genosse Krenz in seinem Referat in der - in Hinsicht auf die
Beziehungen zwischen der DDR und BRD geäußert hat, in
Hinsicht auf (äh) die Notwendigkeit, den Friedenssicherungsprozeß
mit neuen Initiativen fortzusetzen. Und (äh) sicherlich wird
die Debatte über diese Frage (äh) positiv beeinflußt
werden können, wenn sich auch die BRD und wenn sich die NATO
zu Abrüstungschritten entschließt und sie durchsetzt,
so oder ähnlich wie die DDR das und andere sozialistische Staaten
schon mit bestimmten Vorleistungen getan haben.
Herzlichen Dank!" |
(Ende der Pressekonferenz: 19:00:54 Uhr.) |