Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/00/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis SAPMO – BArch, SED, ZK, IV 2/1/704
Quellenabschnitt  
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Lieber Michail Sergejewitsch Gorbatschow!

In Zusammenhang mit der Entwicklung der Lage in der DDR war es in den Nachtstunden notwendig zu entscheiden, die Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik auch nach Berlin (West) zu gestatten. Größere Ansammlungen von Menschen an den Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) forderten von uns eine kurzfristige Entscheidung. Eine Nichtzulassung der Ausreise nach Berlin (West) hätte auch zu schwerwiegenden politischen Folgen geführt, deren Ausmaße nicht überschaubar gewesen wären. [324] Durch diese Genelunignmg werden die Grundsätze des Vierseitigen Abkommens über Berlin (West) nicht berührt; denn die Genehmigung bei Ausreisen zu Verwandten gab es nach Berlin (West) schon jetzt.
In der vergangenen Nacht passierten ca. 60.000 Bürger der DDR die Grenzübergangsstellen nach Berlin (West). Davon kehrten ca. 45.000 wieder in die DDR zurück.
Seit heute morgen 6.00 Uhr können nur Personen nach Berlin (West) ausreisen, die über das entsprechende Visum der DDR verfügen. Das gleiche gilt auch für ständige Ausreisen aus der DDR.
Ich bitte Sie, lieber Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow, den Botschafter der UdSSR in der DDR zu beauftragen, unverzüglich mit den Vertretern der Westmächte in Berlin (West) Verbindung aufzunehmen, um zu gewährleisten, daß sie die normale Ordnung in der Stadt aufrechterhalten und Provokationen an der Staatsgrenze seitens Berlin (West) verhindern.

Mit kommunistischem Gruß

gez. Egon Krenz

Generalsekretär

   
interne Nummer 00013

Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/00/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Hans-Hermann Hertle;
"Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates.";
Opladen 1996; ISBN – 3-531-12927-9
Quellenabschnitt ebenda S. 374 ff
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Hertle: Egon Krenz hat geschrieben, daß ihn der sowjetische Botschafter in Ost Berlin, Wjatscheslaw Kotschemassow, um 9.00 Uhr herum anrief. Kotschemassow habe ihm mitgeteilt, daß Moskau über die Maueröffnung beunruhigt sei. Die Öffnung der Grenze in Berlin sei nicht mit der Sowjetunion abgestimmt.
Von Mitgliedern der operativen Führungsgruppe wurde mir berichtet, daß Sie an diesem Morgen auch mit Kotschemassow gesprochen haben. Was war der Inhalt dieses Gesprächs?
Streletz: Der sowjetische Botschafter hat nach meiner Erinnerung an diesem Morgen dreimal angerufen: um 9.00 Uhr, um 9.30 Uhr und um 9.45 Uhr. Das erste Gespräch hatte Krenz geführt. Er sagte dann zu Kotschemassow, ich über gebe den Hörer an General Streletz. Er ist bei mir im Zimmer, kann besser russisch als ich und wird Ihnen die Lage schildern.
Kotschemassow stellte mir die Frage, wer die Genehmigung zur Öffnung der Berliner Grenze gegeben habe beziehungsweise mit wem dieser Schritt abgestimmt worden sei. Mit ihm seien nur Maßnahmen abgesprochen worden, die die Grenze der DDR zur BRD betrafen. Berlin habe einen besonderen Viermächtestatus, und die Handlungsweise der DDR-Organe habe der Autorität der Sowjetunion Schaden zugefügt. Meine Antwort war, ich werde Egon Krenz dieses Problem vortragen, und er möchte doch bitte in einer halben Stunde noch einmal anrufen, dann kriegt er Bescheid.
Nach einer halben Stunde rief Kotschemassow erneut an. Ich teilte ihm mit, daß Außenminister Fischer die Aufgabe erhalten hatte, ihm die Zusammenhänge zu erläutern.
Gegen 9.45 Uhr erfolgte sein dritter Anruf. Botschafter Kotschemassow teilte mir folgendes mit: Moskau ist über unsere Handlungsweise zur Öffnung der Berliner Grenze verstimmt. Im Interesse der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der DDR wäre es zweckmäßig, sofort ein Telegramm von Egon Krenz an Michail Gorbatschow zu schicken und unser Vorgehen zu begründen. Ich antwortete dem sowjetischen Botschafter, daß ich ihn richtig verstanden habe, und versicherte ihm, daß ich sein Anliegen sofort Egon Krenz melden werde.
Nachdem ich den Generalsekretär über den Inhalt des Gesprächs informiert hatte, erhielt ich den Auftrag, gemeinsam mit den Mitgliedern der operativen Führungsgruppe sofort ein Telegramm an Gorbatschow vorzubereiten und es Krenz kurzfristig zur Unterzeichnung vorzulegen. Gegen 11.00 Uhr habe ich das Dokument im Sitzungssaal des Zentralkomitees Egon Krenz zur Unterschrift vorgelegt.
   
interne Nummer 00006b

Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/00/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Egon Krenz; "Wenn Mauern fallen." Urschrift
von einem Mitglied des NVA-Forums (Sven_10) zur Verfügung gestellt.
Quellenabschnitt  
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Noch während ich mit der Operativen Führungsgruppe sprach, klingelte mein WTSCH - Apparat. Es muß kurz vor neun Uhr gewesen sein. Der sowjetische Botschafter Kotschemassow war am anderen Ende. Meinen Aufzeichnungen entnehme ich folgenden Dialog, der ohne Dolmetscher in russischer Sprache geführt wurde:
- Kotschemassow: ”Genosse Krenz, in Moskau ist man beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer, wie sie sich heute Nacht entwickelt hat.”
- Krenz: ”Das wundert mich. Im Prinzip wurde doch nur um Stunden vorgezogen, was heute ohnehin vorgesehen war. Unser Außenminister hat die Reiseverordnung mit der sowjetischen Seite abgestimmt.”
- Kotschemassow: ”Ja, aber das stimmt nur zum Teil. Es handelte sich nur um die Öffnung von Grenzübergängen zur BRD. Die Öffnung der Grenze in Berlin berührt die Interessen der Alliierten.”
- Krenz:” So habe ich die Sache nicht verstanden. Doch dies ist jetzt nur noch eine theoretische Frage. Das leben hat sie heute nacht beantwortet. Die Grenzöffnung hätte nur durch militärische Mittel verhindert werden können. Das hätte ein schlimmes Blutbad gegeben.”
Kotschemassow schwieg. Ich hatte ihn immer als besonnenen und höflichen Menschen kennengelernt. So verhielt er sich auch jetzt.
Dann sagte er: ”Sie haben recht. So sehe ich das auch.”
Ich ärgerte mich über den Anlaß des Gespräches. Ich fragte mich, wer mit falschen Karten spielt? Mir war am 9. November von Stoph bestätigt worden, daß der Entwurf der Reiseverordnung mit Moskau abgestimmt sei.
Kotschemassow wollte noch Einzelheiten wissen. Obwohl ich gut russisch sprechen kann, übergab den Hörer an Fritz Streletz, der sich in der konkreten Lage konkret auskannte und dazu auch hervorragend russisch spricht. Streletz und Kotschemassow führten am Vormittag noch zwei weitere Gespräche.

   
interne Nummer 00003d