Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/07/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Egon Krenz; "Wenn Mauern fallen." Urschrift
von einem Mitglied des NVA-Forums (Sven_10) zur Verfügung gestellt.
Quellenabschnitt  
   
 

Fritz Streletz arbeitete den Befehl Nr. 12/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates ”über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik” in meinem Vorzimmer aus. Dort, wo er bereits am 16. Oktober 1989 den Befehl zur Situation in Leipzig formuliert hatte. Der Führungsgruppe gehörten außer Streletz und dem Chef der Grenztruppen keine Mitglieder des Zentralkomitees an. Das hing damit zusammen, daß die 10. Tagung weiter ging. Zur operativen Führungsgruppe gehörten weiter: ein Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, ein Stellvertreter des Innenministeriums, der zugleich Chef des Stabes der Volkspolizei war, ein Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, der Leiter der Abteilung für Parteiorgane des Zentralkomitees, der Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat der DDR. Alexander Schalck war nicht Mitglied des Gruppe, weil er seine Aufträge direkt von mir erhielt. Er arbeitete mit der Führungsgruppe jedoch eng zusammen. Die Aufgabe der Führungsgruppe, die ihrem Wesen nach eine Arbeitsgruppe war, bestand darin, Informationen über die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR zu sammeln und zu analysieren, ununterbrochen die Lage des Gegners im Westen einzuschätzen sowie Schlußfolgerungen bzw. Vorschläge für gesamtstaatliche Führungsentscheidungen vorzubereiten. Die Arbeitsgruppe tagte in meinem Arbeitszimmer im Zentralkomitee. Sie meldete mir täglich bis 9 00 Uhr die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR. Über schwerwiegenden besondere Vorkommnisse mußte ich sofort informiert werden. Kurz vor 8:00 Uhr legte Streletz mir den Befehl zur Unterschrift vor. Um 8 00 Uhr wies ich die Mitglieder der Gruppe in ihre Arbeit ein. Die operative Führungsgruppe hatte keine Befehlsgewalt. Sie hatte weder den Auftrag, militärische Maßnahmen für das Schließen der Grenze zu planen, noch über einen ”Ausnahmezustand” nachzudenken. Der war laut DDR - Verfassung nicht vorgesehen. Mit meinem Wissen oder durch Auftrag der mir unterstellten Minister für Verteidigung, für Staatssicherheit und Inneres sind zu keinem Zeitpunkt militärische oder andere Aktionen zur Schließung der Grenze unternommen worden. Im Gegenteil: alle Alarmierungen hatten nur ein Ziel: bereit zu sein, wenn die Grenztruppen der DDR bei der Erschließung neuer Übergänge Unterstützung bräuchten. Zum Einsatz der Armee gegen das eigene Volk hat es in meiner Amtszeit keinen Befehl gegeben. Es ist nach meiner Kenntnis unwahr, daß in der Operativen Führungsgruppe jemals die Frage erörtert wurden sei, ob die Grenzübergänge wieder geschlossen und der alte Zustand wieder hergestellt werden solle. Niemals wurde die Frage erörtert, ob dafür die Nationale Volksarmee eingesetzt werden könnte.

   
interne Nummer 00003b

Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/07/A
Quellenart Überrest
Quellennachweis Befehl Nr. 12/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR
Quellenabschnitt  
   
 
Befehl Nr. 12/89

des Vorsitzenden des Nationalen Verteidungsrates der Deutschen Demokratischen Republik

über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidungsrates der Deutschen Demokratischen Republik

vom 10.11.1989.

Zur Beherrschung der unter den gegenwärtigen Bedingungen bestehenden komplizierten sicherheitspolitischen Situation in der Deutschen Demokratischen Republik und dem sich daraus ergebenden Erfordernis, auf jede weitere Zuspitzung der Lage kurzfristig und angemessen zu reagieren

befehle ich

1. Mit Wirkung vom 10.11.1989 ist eine operative Führungsgruppe unter Leitung des Stellvertreters des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef des Hauptstabes, Genossen Generaloberst Streletz, zu bilden.
2. Mitglieder der operativen Führungsgruppe:
- Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Genosse Generalleutnant Neiber
- Stellvertreter des Ministers des Innern und Chef des Stabes, Genosse Generaloberst Wagner
- Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Genosse Kurt Nier
- Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen, Genosse Generaloberst Baumgarten
- Leiter der Abteilung Parteiorgane des Zentralkomitees der SED, Genosse Heinz Mirtschin
- Leiter der Arbeitsgruppe für Organisation und Inspektion beim Ministerrat, Genosse Harry Möbis
Die oben genannten Mitglieder der operativen Führungsgruppe haben zur Gewährleistung ihrer Tätigkeit entsprechende Arbeitsgruppen zu bilden.
3. Die operative Führungsgruppe hat
- Informationen über die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR zu sammeln und zu analysieren
- ununterbrochen die Lage des Gegners einzuschätzen sowie
- Schlußfolgerungen bzw. Vorschläge für gesamtstaatliche Führungsentscheidungen vorzubereiten.
4. Die Arbeitsgruppen der Mitglieder der operativen Führungsgruppe haben ab 10.11.1989 16.00 Uhr, ihre Tätigkeit im Lage – und Informationszentrum des Ministeriums des Innern aufzunehmen. Das Arbeitsregime für die Arbeitsgruppen legt der Leiter der operativen Führungsgruppe in Abstimmung mit dem Stellvertreter des Ministers des Innern und Chef des Stabes fest.
5.
(1) Meldungen an den Generalsekretär des ZK der SED
- über die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR – täglich 09.00 Uhr
- über schwerwiegende besondere Vorkommnisse – sofort
(2) Die Mitglieder der operativen Führungsgruppe haben täglich bis 04.00 Uhr kurzgefaßte Lagemeldungen entsprechend ihrer Zuständigkeit an das Lage – und Informationszentrum des Ministeriums der Innern zu übergeben.
   
6. Dieser Befehl tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft und hat Gültigkeit bis auf Widerruf.
7. Die Ziffer 9 des Befehls des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrats der DDR Nr. 11/89 wird außer Kraft gesetzt.

Berlin 10. November 1989

Egon Krenz

Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik.

   
interne Nummer 00005

Faksimile Befehl Nr. 12/89 des Vors. des Verteidigungsrates der DDR (3 Seiten)
   
 



   

Datum 10. November 1989
Ereignis 89/11/10/07/A
Quellenart Tradition
Quellennachweis Hans-Hermann Hertle; "Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates."; Opladen 1996; ISBN – 3-531-12927-9
Quellenabschnitt ebenda S. 373 ff
   
 
Hertle: Herr Streletz, Sie sind am frühen Morgen des 10. November ins ZK-Gebäude gefahren. Wolfgang Herger sagt, bereits um 7.00 Uhr trat ein Krisenstab im Arbeitszimmer von Krenz zusammen, dessen Leitung Sie dann übernommen haben.
Streletz: Mir ist der Begriff "Krisenstab" nicht bekannt. Ich höre ihn heute zum ersten Mal. Jetzt zu Ihrer Frage. Ich hatte mich am 10.11.1989 um 7.00 Uhr im Arbeitszimmer des Generalsekretärs des ZK der SED zu melden. Gegen 5.45 Uhr war ich im Ministerium für Nationale Verteidigung und nahm die Meldungen.
über die Ereignisse der Nacht entgegen. Kurz nach 6.00 Uhr fuhr ich nach Berlin und traf gegen 6.50 Uhr im Arbeitszimmer von Egon Krenz ein. Nach einer kurzen Auswertung der Ereignisse der vergangenen Nacht und einer Einweisung durch Egon Krenz und Wolfgang Herger habe ich im Vorzimmer den Befehl 12/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates über die Bildung einer operativen Führungsgruppe des NVR vorbereitet und ihn gegen 7.45 Uhr dem Vorsitzenden zur Unterschrift vorgelegt. [19]
Der operativen Führungsgruppe gehörten sieben leitende Kader an, die gegen 8.00 Uhr im Arbeitszimmer des Generalsekretärs eintrafen und die folgenden Aufgaben hatten:
1. Informationen über die Gesamtlage auf dem Territorium der DDR zu sammeln und zu analysieren;
2. ununterbrochen die Lage des Gegners einzuschätzen;
3. Schlußfolgerungen bzw. Vorschläge für gesamtstaatliche Führungsentscheidungen vorzubereiten.
Gleichzeitig hatte ich die Aufgabe, stets engen Kontakt zum Oberkommandierenden der Westgruppe, Armeegeneral Snetkow, zu halten und ihn über alle wichtigen Ereignisse oder Entscheidungen zu informieren.
Hertle: War Schalck um 7.00 Uhr schon dabei?
Streletz: Nein. Schalck ist gegen 10.00 Uhr eingetroffen und brachte für mich überraschenderweise Dokumente mit, wo an der Grenze kurzfristig neue Grenzübergangsstellen geschaffen werden. Schalck gehörte nicht zur operativen Führungsgruppe, aber es wurde von Krenz gesagt, zu allen Fragen, die ihn betreffen, ist er bereit, uns mit seinen beiden Genossen behilflich zu sein.
Hertle: Um 7.00 Uhr war auch Neiber anwesend. Kam er schon mit diesen beiden Berichten über die Entwicklung der Lage an der Grenze insgesamt und insbesondere am Brandenburger Tor mit Stand 10.11., vier Uhr früh?
Streletz: Ja. Neiber und auch der Chef des Stabes des Ministeriums des Innern, Wagner, hatten bereits konkrete Unterlagen, Auskunftsdokumente, mit, wie die Lage aussieht. Das stand dort mit zur Diskussion.
   
interne Nummer 00006a