Datum 14. November 1989
Ereignis 89/11/14/00/A
Quellenart Überrest/Tradition
Quellennachweis http://www.foia.cia.gov/
Quellenabschnitt  
Faksimile Tagesauswertung (National Intelligence Diary) vom 14.11.1989
   
 

Wachsende Forderung nach Neuwahlen

Sowohl die Vertreter des Regimes als auch die führende Oppositionsbewegung Neues Forum haben sich Forderungen nach frühzeitig abzuhaltenden freien Wahlen widersetzt. Am Vorabend hatten über 300.000 Demonstranten in Leipzig diese Forderung unterstützt. Wie gestern bestätigt wurde, hat der neue Ministerpräsident Modrow Kanzler Kohl am letzten Wochenende davor gewarnt, auf baldige Neuwahlen zu drängen. Die Mitbegründer des Neuen Forums Jens Reich und Bärbel Bohley haben sich ebenfalls gegen die Forderung nach frühzeitigen Neuwahlen stark gemacht; sie sagten, die Opposition benötige mindestens ein Jahr, um sich zu organisieren. Reich, der weiter sagte, seine Gruppierung hätte bereits 200.000 Mitglieder und würde weiter wachsen, hat vor übereilten Schritten gewarnt, das östliche Bündnis zu verlassen. Er bezeichnete das Gerede über die deutsche Wiedervereinigung als schädlich für Präsident Gorbatschow.
Die Kommunisten und das Neue Forum müssen kämpfen, um von den Ereignissen nicht überrollt zu werden; die auf der Leipziger Demonstration im Zentrum stehende Forderung nach Neuwahlen zeigt, dass diese Gruppen die politische Kontrolle über die Proteste verlieren werden. Führende Vertreter der SED hoffen ihre geringen Chancen auf ein gutes Wahlergebnis erhöhen können, wenn sie den Wahltermin bis 1991 verschieben; diese Hoffnung besteht vermutlich zu Unrecht. Das Neue Forum verfügt nur über eine kleine wenig ausgebaute organisatorische Basis und hat keinen gesicherten Zugang zu den Massenmedien, ganz im Gegensatz zu der großen aber rasch auseinanderfallenden Kommunistischen Partei. Das Regime wird sich vermutlicht genötigt sehen, den Wahltermin vorzuverlegen und das Neue Forum wird sich schwer tun ein Wahlprogramm vorzulegen und entsprechende Kandidaten aufzustellen.

Flüchtlingswelle zeitweilig verlangsamt

Die Flüchtlingswelle hat sich abgeschwächt seit Ost-Berlin seine Grenzen geöffnet hat. Wie Reporter von westdeutschen Behördenvertretern erfuhren, haben nur 20.000 der 3 Millionen Ostdeutschen, die seit Donnerstag Nacht über die Grenze nach Westdeutschland und Westberlin gefahren waren, den Wunsch geäußert, auf Dauer im Westen bleiben zu wollen.
Die Spekulation des Regimes mit den gewährten Reiseerleichterungen dem Protest die Spitze zu nehmen, scheint aufzugehen.
Die meisten Ostdeutschen geben sich für den Augenblick damit zufrieden, von der westlichen Konsumgesellschaft zu kosten und danach nach Hause zurückzukehren. Die gemachte Erfahrung wird dazu führen, dass die Menschen zukünftig noch weniger geneigt sein werden, sich mit der Mangelwirtschaft abzufinden. Die Öffentlichkeit wird Reformen in Richtung Marktwirtschaft erheben und außerdem Wirtschaftshilfen aus der Bundesrepublik einfordern.

   
interne Nummer 00024

Faksimile CIA Tagesauswertung vom 14.11.2989 National Intelligence Daily