Datum 09. November 1989
Titel "Aufruf von Christa Wolf"
Quelle "Neues Deutschland"
   
 

”Wir alle sind tief beunruhigt. Wir sehen die Tausende, die täglich unser Land verlassen. Wir wissen, daß eine verfehlte Politik bis in die letzten Tage hinein ihr Mißtrauen in die Erneuerung dieses Gemeinwesens bestärkt hat. Wir sind uns der Ohnmacht der Worte gegenüber Massenbewegungen bewußt, aber wir haben kein anderes Mittel als unsere Worte. Die jetzt noch weggehen, mindern unsere Hoffnung. Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns! Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist: Jahrzehnte Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Lande. Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, daß er wieder im Keim erstickt wird. Wir brauchen Sie. Fassen Sie zu sich und uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen.” Unterschrieben haben diesen Aufruf für das ”Neue Forum” Bärbel Bohley, für den ”Demokratischen Aufbruch” Erhard Neubert, für die ”Sozialdemokratische Partei” Uta Forsthauer, für ”Demokratie jetzt” Hans-Jürgen Fischbeck, für die Initiative ”Frieden und Menschenrechte” Gerhard Poppe sowie außer Christa Wolf so bekannte Künstler wie Volker Braun, Ruth Berghaus, Christoph Hein, Stefan Heym, Kurt Masur und Ulrich Plenzdorf.

   
interne Nummer A00001